Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
einem verfallenen Haus lebend. Sie nutzte die Gelegenheit und studierte seine Gesichtszüge. Ohne die ewig sich wandelnden Augen war sein Gesicht weit uninteressanter. Seine Gesichtszüge waren sogar ermüdet noch attraktiv, aber sie wirkten zerklüftet.
Das war also der echte Raeburn, ganz ohne furchteinflö ßende Schatten und ohne von Gerüchten umgeben zu sein, die ihn fast zu einem Titanen machten. Ihr wahnsinniger Vertrag mit ihm war ihr so wagemutig erschienen, als dieser unwirkliche Glamour ihn umgeben hatte. Aber er war einfach nur ein Mann, und der altertümliche Steinhaufen war nur ein heruntergekommenes Herrenhaus, das so wenig fantastisch war wie die Tollheiten des alten Herzogs, dem ein breitgesichtiges Mädchen für ein paar Münzen und einen neuen Unterrock einen Ritt gestattet hatte.
Victoria wies den Gedanken von sich, kaum dass sie ihn gedacht hatte. Anfangs hatten sie vielleicht nicht mehr als einen flitterhaften Taumel im Sinn gehabt, aber seit ihrem ersten gemeinsamen Mahl verspürte sie eine Verbindung, die sich nicht als Selbstbetrug oder Lust abtun ließ.
Und die spürte sie immer noch. Als Raeburn die Augen aufschlug, stellte sie fest, dass der Moment der Schwäche ihrem Verlangen nach ihm keinen Abbruch getan hatte. Vielmehr legte sich die offenkundige Unvollkommenheit wie eine weitere Farbschicht auf das Bild, das sie sich insgeheim von ihm machte.
»Ich bleibe, bis das Feuer heruntergebrannt ist«, sagte er. »Sie scheinen es jetzt im Griff zu haben. Wenn Sie wünschen, schicke ich Ihnen jemanden als Begleitung mit, oder Sie gehen allein zum Haus zurück.«
»Ich würde lieber mit Ihnen warten.«
Er zog eine Grimasse. »Die Vorstellung ist vorbei. Es gibt keinen Grund mehr, noch zu bleiben. Was das angeht, hat es für Sie auch keinen gegeben, überhaupt mitzukommen.«
»Ich wollte aber. Und jetzt will ich bleiben.«
»Wie Sie möchten.« Er setzte sich so, dass er die brennende Schmiede durch die offene Tür sehen konnte. Die Flammen legten sich bereits, doch die Dörfler schleppten immer noch geschäftig Wassereimer herbei, und um das Gebäude herum befand sich ein schlammiger Ring. Die Herbstsonne übergoss die Szene wie dünner Honig, der Rauch kräuselte sich schwarz vor dem blauen Himmel, jede Falte in den Kleidern der Dörfler war scharf und klar von Schatten und Licht umrissen. Das tanzende Feuer und die stetige Prozession der Männer und Frauen hatten etwas beinahe Hypnotisches an sich.
Aber Raeburn war nicht hypnotisiert. Seine Miene wirkte rastlos und frustriert. Victoria wusste, er wollte nach draußen, Seite an Seite mit seinen Pächtern Eimer schleppen. Doch er machte keine Anstalten, die Kutsche zu verlassen. Was hielt ihn zurück? Mrs. Peasebody hatte von einer Krankheit gesprochen, und Victoria hatte gehört, dass Albinos bei hellem Licht nicht sehen konnten, aber Raeburn war kein Albino. Aber vielleicht etwas Ähnliches. Falls es seinen Augen schadete oder er draußen geblendet wurde, konnte er es nicht wagen, auszusteigen, so sehr er auch wollte.
»Der Schmied ist Annies Onkel«, riss er sie abrupt aus ihren Überlegungen.
»Der, der sie anfangs im Arm gehalten hat?«
»Ja. Die Männer in ihrer Familie sind immer schon Schmiede gewesen. Die Schmiede brennt alle hundert Jahre einmal ab, aber sie ist immer wieder aufgebaut worden.« Er rutschte herum und sah sie an. »Aber Tom Driver hat davon gesprochen, nach Leeds gehen zu wollen. Sein Sohn ist schon dort, denn in einem so kleinen Dorf gibt es für Schmiede kaum Arbeit. Pferde beschlagen und Reparaturarbeiten, etwas anderes gibt es nicht mehr zu tun, dabei macht er lieber die feineren Arbeiten, so wie er es von seinem Vater gelernt hat. Ich weiß nicht, ob er in Leeds etwas anderes als Hufeisen zu machen bekäme, aber zumindest mehr davon.«
»Dann wird Ihr Schmied also den Webern folgen?«, fragte Victoria, die an das Gespräch vom Abend zuvor dachte.
»Vielleicht.« Er betrachtete wieder mit unergründlicher Miene das Haus. »Als ich jung war, habe ich mir ausgemalt, was ich als Duke alles tun würde. Ich würde fair, gerecht und großzügig sein, und die Pächter würden mich lieben. Ich würde wie ein König im Märchen sein, und weil ich so gut sein würde, würden alle meine Felder doppelten Ertrag bringen und meine Schafe immer nur Zwillinge bekommen.«
Victoria schnaubte. »Als ich ein kleines Mädchen war, habe ich mir vorgemacht, dass die Herzogin von Windsor heimlich einen Sohn hätte, der ein
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