Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
unvoreingenommener Gerechtigkeit und väterlicher Liebe regiert. Lächerlich sentimental, würde ich sagen.«
Victoria betrachtete ihn lange und sah die Selbstverachtung und Verbitterung in seinem Blick. Sie setzte eine unverbindliche Miene auf und antwortete mit achtsam beiläufigem Tonfall: »Möglicherweise, aber dennoch nobel von Ihnen.«
Raeburn zwinkerte verdutzt und sah sie nur an.
»Hat man Sie das nie zuvor genannt?« Jetzt war es an Victoria, verblüfft zu sein.
»Ich – nein. Nie.« Die Belustigung vertrieb seinen erstaunten Gesichtsausdruck, und er lachte. »Noch habe ich mich je selbst dafür gehalten, es sei denn im buchstäblichen, herzoglichen Sinne des Wortes.«
»Dann kennen Sie sich vielleicht nicht so gut, wie Sie glauben.«
Raeburn schnaubte. »Wenn man so wenig geistige Beschäftigung hat wie ich, lernt man sich besser kennen, als einem lieb ist. Sie kennen mich erst seit ein paar Tagen, Victoria. Vielleicht habe ich mich von meiner besten Seite gezeigt, und Sie sind diejenige, die sich irrt.«
Victorias Gedanken kehrten unausweichlich zu der Frage zurück, die sie ihm in der Kutsche gestellt hatte. »Vielleicht. Sie erzählen schließlich bemerkenswert wenig, sooft wie wir miteinander reden.«
Raeburns Gesicht verdunkelte sich, als er begriff, worauf sie anspielte. »Vergessen Sie es, Victoria«, sagte er leise. »Vergessen Sie, dass Sie mich jemals etwas gefragt haben. Und vor allem, vergessen Sie, dass es etwas zu fragen gab.«
Victoria presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Sie wissen, dass das unmöglich ist.«
Sie schien mehr von sich verraten zu haben, als sie gedacht hatte, denn seine Miene entspannte sich etwas. »Wollen Sie mir wenigstens glauben, dass ich Sie mit meinem Schweigen nicht verletzen wollte?«
Victoria ließ ihre Stimme kalt klingen. »Wie sollte es mich verletzen? Immerhin sind wir nicht mehr als entfernte Bekannte, vom Körperlichen einmal abgesehen.« Sie zögerte, aber die sengende Wut, die er entfacht hatte, trieb sie weiter voran. »Und falls Sie dachten, Sie hätten zu wählen, ob Sie zu mir sprechen oder mich verletzen wollen, und sich dennoch fürs Schweigen entschieden haben, dann frage ich mich, warum Sie jetzt um Vergebung bitten. Sie haben den leichteren Weg gewählt und wussten, dass Sie mir damit einen Tritt geben würden. Sie haben mich bewusst brüskiert. Welche Vergebung könnten Sie also erwarten?«
Raeburn verzog den Mund. »Einmal mehr haben Sie direkt ins Herz getroffen.«
Seine Stimme warnte sie, doch Victoria ignorierte es. »Ich bin im Verbreiten von Ernüchterung mittlerweile geübt. Wenn Sie Vergebung wünschen – Sie scheinen ja zu glauben, dass es etwas zu vergeben gibt -, gibt es eine Lösung: Beantworten Sie meine Frage.«
Eine Maske schien sich vor sein Gesicht zu schieben, und er stand so abrupt auf, dass der Stuhl wankte und zurückkippte. Raeburn ließ sie nicht aus den Augen, während er den Tisch umrundete. Victoria befürchtete schon, zu weit gegangen zu sein – diesmal schien etwas in ihm gebrochen zu sein. Er zog ihren Stuhl vom Tisch zurück und drehte ihn gleichzeitig, bis sie ihn ansah. Victoria umklammerte die Lehnen so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. Sie mühte sich um eine entsprechende Miene, obwohl ihr schon das Blut ins Gesicht schoss, allerdings nicht nur vor Zorn. Sie verspürte eine Wärme ihren Körper durchfluten, die mit Wut nichts zu tun hatte, aber alles mit seiner Nähe, der Hitze seines Körpers, der sich über ihr auftürmte. Sie reckte trotzig das Kinn vor, ob seinetwegen oder ihrer eigenen Reaktion wegen, wusste sie nicht. Raeburns Gesicht wurde nur noch dunkler.
»Sie sind hier nicht der Hausherr.« Er schrie zwar nicht, doch sein Flüstern ließ ihr kälter werden als der lauteste Schrei. Plötzlich war all ihre Wut verflogen, was so verstörend war, dass sie einen Moment lang sprachlos und verwirrt zurückblieb. Ohne die Barriere aus Wut taumelte sie in die Anziehung, die er auf sie ausübte – taumelte und fiel.
»Nein, bin ich nicht«, sagte sie leise. Er hielt den Rücken ihres Stuhls umklammert und beugte sich über sie, das Gesicht keine Handbreit von ihrem entfernt.
»Und Sie haben kein Recht, mich auszufragen.«
»Nein.«
Sie verfielen in Schweigen. Raeburn starrte finster auf sie hinab, während Victoria gegen das flaue Gefühl in ihrem Magen kämpfte und seinem Blick standhielt. Der Rand seiner Manschette streifte ihre Wange, und sie
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