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Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)

Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Rebellin der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Joyce
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Nähe oder neuen Einsichten.
    Denn sie fühlte sich eine Welt weit weg, als betrachte sie ihn vom Mond aus mit einem Fernglas. Seit ihre Woche begonnen hatte, hatten sie miteinander gesprochen, geschlafen, die Tage geteilt. Aber etwas von ihm, der jetzt vor dem Spiegel stand und sich ein langes Rasiermesser über Wangen und Kinn zog, durfte sie nicht mit ihm teilen. Dieser Teil von ihm war entrückt, abgetrennt; und sie war überzeugt, dass dieser Teil seinem unkomplizierten Herzen näher war als alles, was sie beide teilen konnten.
    Sie wünschte sich nur noch, ihrerseits genauso wenig preisgegeben zu haben. Raeburn besaß eine unheimliche Fähigkeit, sie auszukundschaften, sie zu beschwatzen, bis die Gewohnheiten aus eineinhalb Jahrzehnten von ihr abfielen. Er hatte mehr von ihrem wahren Ich gesehen als jeder andere, sie selbst eingeschlossen. Und je tiefer er hinter ihre Barrikaden drang, desto schwerer fiel es ihr, ihn auf Distanz zu halten. Als sie gestern Nacht aus dem Schlaf erwacht und den Liebesakt fortgesetzt hatten, war er ihr nicht nur als ein Mann, sondern als er selbst nah gewesen, und sie hatte nicht die Kraft gefunden, den Akt auf das strikt Mechanische zu reduzieren.
    Raeburn hatte im Spiegel gesehen, dass sie ihn beobachtete, denn seine Haltung änderte sich, wurde kontrollierter. Er legte das Rasiermesser weg, wischte den letzten Schaum vom Kinn und sagte, während er sich das Gesicht trocknete: »Sie brauchen nicht so früh aufzustehen wie ich.«
    Victoria lächelte matt und versuchte, das wachsende Unbehagen zu verdrängen. »Auch Ihnen einen guten Morgen, Euer Gnaden. Wie viel Uhr ist es?«
    »Neun oder kurz danach.«
    Victoria schüttelte den Kopf. »Schlafen Sie denn niemals? Oder ist das wieder so eine Marotte?«
    Raeburn zuckte zusammen, als sie seine Eigenheiten ins Spiel brachte, doch er antwortete ihr leichthin, während er seine Hose anzog. »Ich habe mehr von diesen Marotten, als Sie sich vorstellen können. Wenn wir gerade dabei sind, Sie sollten eigentlich noch schlafen.« Zwei Handgriffe, und er hatte die Stiefel an. »Später schicke ich Ihnen Annie mit dem Frühstück herauf. Bis dahin wird geschlafen.« Er ging, die Hosenträger in der Hand, zur Tür und blieb noch einmal stehen, um sich nach ihr umzudrehen.
    »Es war schön, neben Ihnen aufzuwachen«, sagte er mit plötzlich leiser Stimme und war fort, bevor Victoria ihm noch antworten konnte.
     
    Byron legte die Rosenholz-Hanteln weg und nahm zwei leichte indianische Keulen aus dem Regal an der Wand seiner Turnhalle. Er war bereits schweißnass, und seine Muskeln brannten angenehm. Er stellte sich breitbeinig hin, begann, die Keulen langsam und locker zu schwingen, und genoss es, wie sie bei jeder Bewegung an seinen Armmuskeln zogen.
    Er liebte diese eine Stunde am Tag, die er hier unten bei den Gewichten und Geräten verbrachte, das Gefühl der Kontrolle, wenn er an seine Grenzen ging. Oder zumindest die Illusion von Kontrolle. Hier konnte er die verborgenen Schwächen seines Körpers vergessen; den einen Sonntag, der ihn schwerer verletzen konnte als der Sturz durch ein Fenster oder ein Pferdetritt. Hier hatte er seinen Körper in der Gewalt. Er konnte ihn in eine Maschine aus Muskeln, Knochen und Sehnen verwandeln und zusehen, wie er sich durch bloße Willenskraft veränderte.
    Hätte er mit dieser Willenskraft nur auch diese Blutkrankheit heilen können, die ihn so lähmte …
    Victoria würde wieder danach fragen. Das wusste er, und er wusste auch, dass er es ihr nicht sagen konnte. Ein kleiner Teil von ihm träumte davon, dass sie sein Leiden akzeptierte ohne Mitleid, ohne Entsetzen, ohne Argwohn, sondern mit verständnisvoller Offenheit. Doch er erkannte den Traum als das, was er war – eine Fantasie, die der Realität und dem, was er über die menschliche Natur wusste, nicht standhielt. Wills junges Gesicht, vom Entsetzen verzerrt, erstand vor seinem inneren Auge. Er schüttelte den Kopf, vertrieb die Erinnerung. Er konnte mit dem Jungen nicht so scharf ins Gericht gehen. Schließlich verabscheute er die Erkrankung genauso. Wie konnte er von anderen anderes erwarten?
    Byron verlangsamte die Bewegung seiner Arme und ließ sie schließlich sinken. Er legte die leichten Keulen weg, griff zum nächsten Paar und genoss die Schwere seiner erschöpften Muskeln, die hypnotische Wiederholung der Bewegung. Nein, er würde Victoria nichts erzählen, was es ihn auch kostete. Dann würden ihm unbefleckte Erinnerungen an ihre

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