Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
hereinschlurfte.
Es handelte sich, wie sie erwartet hatte, um den ernsten weißhaarigen Herrn, den sie von gestern Nacht erinnerte. Er beorderte Mrs. Peasebody hinaus und wies Victoria an, den Kopf zu beugen, damit er die Schwellung begutachten konnte.
Er tastete sie vorsichtig ab und räusperte sich gelegentlich. Schließlich nickte er. »Genau, wie ich dachte. Auch wenn man es jetzt leichter erkennen kann, die Schwellung ist zurückgegangen. Ein flacher Schnitt und mit großer Sicherheit kein Bruch. Es wird noch ein paar Tage lang empfindlich sein, aber es sollte kein bleibender Schaden entstanden sein.« Er sah sie scharf über den Rand der Augengläser an. »Keine Benommenheit, Eure Ladyschaft? Keine Probleme mit dem Gedächtnis oder dem Bewegen oder dem Sprechen?«
»Ich durfte zwar kaum aus dem Bett, aber nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Victoria, die von seiner großväterlichen Effizienz angetan war.
Der Doktor räusperte sich wieder. »Dann wollen wir uns mal den Knöchel ansehen.« Er wickelte die Bandagen ab und nahm die Schienen weg, versuchte aber nicht, den Knöchel zu bewegen. Er tastete ihn nur vorsichtig mit seiner kühlen, pergamentenen Hand darüber. Victoria biss vor Schmerz die Zähne zusammen. Der Doktor schnaubte zufrieden und bandagierte den Fuß routiniert und schnell neu. »Er ist natürlich gebrochen, Eure Ladyschaft«, sagte er beiläufig. »Ein einfacher Bruch. Sie sollten ihn nicht belasten und sechs Wochen lang bandagiert lassen, dann kommt er wieder in Ordnung. Ich würde für die Zukunft allerdings davon abraten, vom Pferd zu fallen.«
»Eine Empfehlung, die ich mir gewiss zu Herzen nehmen werde«, erwiderte Victoria trocken.
Der Doktor nickte und legte den Handrücken an ihre Stirn. »Immer noch ein Hauch von Fieber, denke ich, aber das sollte bald vergangen sein. Falls die Schmerzen zu stark werden, habe ich Mrs. Peasebody Opiumtropfen dagelassen.«
Victoria erschauderte und dachte an die düsteren Träume, die sie die ganze Nacht über verfolgt hatten. »Nein, ich denke, es geht auch so.«
»Dann dürfen Sie morgen bereits ein paar normale Aktivitäten aufnehmen. Nur gehen dürfen Sie die nächsten vier Wochen über nicht. Dann zwei Wochen mit einem Stock. Und dann können Sie den Verband endgültig abnehmen.« Er tätschelte ihre Hand, erhob sich und wandte sich zum Gehen.
»Warten Sie«, rief Victoria, als er schon an der Tür war. »Wie geht es … den Augen des Dukes?«
Der Doktor sah sich über die Schulter nach ihr um, einen überraschten Ausdruck im faltigen Gesicht.
»Seiner Gnaden Augen? Seinen Augen geht es bestens.« Er drehte sich wieder weg.
»Und wo ist er jetzt? Wenn ich das fragen darf?«
»Er schläft, hoffe ich doch, Eure Ladyschaft«, erwiderte der Doktor. »Es geht ihm den Umständen entsprechend gut, aber er ist genauso dickköpfig wie sein Großonkel.«
Er war fort, bevor Victoria noch eine weitere Frage stellen konnte.
Byron wusste, dass er irgendwann in den Spiegel schauen musste, aber er konnte sich nicht überwinden. Er saß in seinem Arbeitszimmer in dem Stuhl, der dem Feuer am nächsten stand, ein kühles Tuch über dem pochenden Gesicht. Er hätte das Tuch am liebsten ins Feuer geworfen, hätte sein Gesicht dann nicht noch mehr geschmerzt. Aber abgesehen von der temporären Linderung hatte er wenig Vertrauen in die Heilkräfte des Lappens.
Wie würde er aussehen, wenn alles abgeheilt war? Er erinnerte sich erschaudernd an das Gesicht seines Großonkels – kein einziger Flecken Haut, der nicht von Narben verunstaltet war, die Ohren und die Nase gleichermaßen deformiert. Mit einem solchen Gesicht wäre Byron wahrlich ein Aussätziger gewesen – derart entstellt hätte er sich nicht mehr in der Gesellschaft sehen lassen können, all die hässlichen Gerüchte, die über ihn kursierten, hätten ihre Bestätigung gefunden. Er stellte sich vor, wie er den Rest seiner Tage allein im Witwenhaus verbrachte, ein Monster mitten in all der Schönheit. Aber er konnte das Missverhältnis nicht amüsant finden.
Auch wenn er dieses Mal noch keine derartigen Narben davongetragen hatte, es gab keine Garantie, dass er auch beim nächsten Mal verschont bleiben würde. Nein, es war das Beste, wenn er sich an die Abgeschiedenheit gewöhnte. Dann würde die Isolation ihn nicht so schmerzen, wenn er keine Wahl mehr hatte.
Zumindest hatte er den verdammten Doktor mit all seinen Umschlägen und Pülverchen weggeschickt. Der Mann hatte sich das Leiden
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