Rebellin unter Feen
rieb sich die Augen. Dummes Mädchen, schimpfte sie vor sich hin. Auch wenn er dich nicht frisst, er könnte mit dem Stiefel auf dich drauftreten, und dann wärst du platt. Oder noch schlimmer, er sperrt dich in einen Käfig und hält dich bis an dein Lebensende gefangen. Er ist ein Mensch, und du bist eine Fee – ihr habt nichts gemeinsam.
Es klopfte leise an der Tür. »Ja?«, sagte sie, aber niemand kam herein.
Verwirrt stand sie auf, zündete eine Kerze an und ging zur Tür. Sie trat auf den Flur hinaus und sah sich um, doch alle anderenTüren waren geschlossen. Hatte sie sich das Klopfen nur eingebildet?
Da stieß sie mit dem Fuß gegen etwas Festes. Sie unterdrückte einen Aufschrei, als der Gegenstand über den Boden glitt. Oder war es ein Insekt? Nein, auf dem Boden lag ein kleines Päckchen, auf dem ihr Name stand. Sie hob es auf und wickelte es aus. Ein Buch kam zum Vorschein.
Klinges Verwirrung wuchs. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück, setzte sich auf das Sofa und betrachtete das Buch näher. Behutsam schlug sie es auf. Der abgenutzte Lederrücken knackte und bröckelte unter ihren Fingern. Sie begann zu lesen.
Ich habe noch nie Tagebuch geschrieben, doch Lorbeere hält es für ein würdiges Unterfangen, und da ich ihre Schriften von allen am meisten bewundere, wäre es töricht von mir, nicht auf ihren Rat zu hören. Während ich dies schreibe, fällt mir allerdings ein, dass ich gar nicht weiß, über was ich schreiben soll. Hätte ich einen bemerkenswerten Freund wie Dr. Johnson, es mangelte mir nicht an kurzweiligen Begebenheiten, über die zu berichten sich lohnte. Leider bin ich kein Boswell.
Klinge betrachtete die kleine, elegant geschwungene Handschrift. Dr. Johnson und Boswell … das waren doch Namen von Menschen. Offenbar hatte die Verfasserin zu einer Zeit gelebt, als die Verbindung zwischen der Eiche und der Welt der Menschen noch enger war. In diesem Fall konnte das Tagebuch ihr vielleicht zu den Antworten verhelfen, nach denen sie suchte.
Trotzdem will ich mich meinem imaginären Leser zuliebe richtig vorstellen: Ich bin Heide, einundvierzig Sommer alt, in der Regierungszeit der guten Königin Schneeglöckchen geboren und jetzt zur Näherin der Eiche bestellt. Ich habe eine Schülerin namens Bryony …
Das bestätigte ihre Vermutung, dachte Klinge und ein aufgeregter Schauer überlief sie. Eine Heide kannte sie zwar nicht, die Geschichte ihrer Eimutter dagegen sehr gut: Die alte Bryony war in den letzten Jahren der Regierung von Königin Schneeglöckchen Näherin der Eiche geworden, hatte diesen Dienst fast hundert Jahre lang versehen und ihn vor ihrem Tod an ihrer Schülerin Winka übergeben. Demzufolge musste das Tagebuch gegen Ende der magischen Zeit entstanden sein – also genau zu der Zeit, über die Klinge mehr wissen wollte.
Offenbar hatte sie das Buch von jemandem bekommen, der wusste, dass sie sich für die Vergangenheit des Eichenvolks interessierte. Sie glättete die zerknitterte zweite Seite. Vielleicht Pechnelke? Aber Pechnelke hätte das Tagebuch auch einfach in das Regal der Kammer stellen können. Dort hätte Klinge es irgendwann schon gefunden.
Langsam blätterte sie um. Die ersten Einträge waren enttäuschend nichtssagend: Heide hatte ein neues Spitzenmuster erfunden und wollte es unbedingt ausprobieren, sie lobte das Hemd, dass ihre Schülerin geschneidert hatte, und so weiter. Klinge fühlte sich an ihre Zeit bei Winka erinnert und wollte das Buch schon weglegen, da fiel ihr Blick auf einen weiteren Abschnitt.
Heute ist zur allgemeinen Überraschung Jasmin in die Eiche zurückgekehrt. Niemand wagte sie nach dem Grund ihrer Rückkehr zu fragen, denn sie sah alle nur böse an und hatte für niemanden ein freundliches Wort. Bestimmt wird Königin Schneeglöckchen mit ihr sprechen. Jasmin war immer schwierig, und jetzt ist sie vollends unerträglich.
Jasmin … Der Name kam Klinge irgendwie bekannt vor. Sie hatte ihn schon einmal gehört, aber wo?
Azalea findet, man sollte Jasmin dafür zur Verantwortung ziehen, dass sie ihre Aufgabe nicht zu Ende geführt hat, doch die Königin scheint ihr zu verzeihen. Sie hat ausdrücklich verboten, Jasmin Fragen zu stellen, und will auf keinen Fall dulden, dass sie bestraft wird.
Klinge runzelte die Stirn. Was für eine »Aufgabe« hatte Jasmin denn nicht zu Ende geführt? Welchen wichtigen Auftrag hatte man ihr erteilt?
Sie konnte sich nur vorstellen, dass man Jasmin vielleicht als
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