Rebellion Der Engel
oder in eines der Restaurants – zumindest wenn Amber mich mitschleifte. Ansonsten neigte ich eher dazu, mich an den Abenden auf meine Couch zu verkriechen. Ich liebte Bücher, Kekse und heiße Schokolade. Eine unheilvolle Kombination, zumal Sport nicht auf der Liste meiner Lieblingsfreizeitbeschäftigungen stand. Glücklicherweise war ich groß genug, sodass sich die Kekse gut verteilten und selbst bei genauerem Hinsehen noch als weibliche Rundungen durchgingen.
»Hat er sich gemeldet?«, riss Amber mich aus meinen Gedanken.
»Mein Dad?« Ich schüttelte den Kopf, setzte den Blinker und zog an einem langsameren Pkw vorbei, dessen Lichter sich auf der nassen Fahrbahn spiegelten. Der Nadelwald, der sich zu beiden Seiten der Straße entlangzog, erhob sich in die Nacht wie eine Mauer finsterer Schatten. Vor uns lagen die Lichter der Großstadt. »Er hat mir eine E-Mail geschickt.« Das letzte Mal, dass ich mit Dad gesprochen hatte, lag schon eine Weile zurück, und damals hatte er nur angerufen, um mir mitzuteilen, für wie dumm und wenig einträglich er Ambers und meine Idee hielt, nach Ruby Falls zu ziehen und dort eine Buchhandlung zu eröffnen. Wir hatten es trotzdem getan. Für uns war es die Erfüllung einesTraumes, und obwohl es, gerade in der Anfangsphase, nicht immer leicht gewesen war, hatte ich es keine Sekunde bereut. Dads Unkenrufen zum Trotz lief der Laden seit zwei Jahren, und auch wenn wir nicht im Geld schwammen, reichte es, um zu leben – was ich meinem Vater gesagt hätte, wenn er sich auch nur ein einziges Mal erkundigt hätte, wie es mir ging. Ihm genügte es, das Horrorszenario einer unausweichlichen Pleite in den Raum zu stellen und sich dann nicht weiter damit – und mit mir – zu befassen. Wie jedes Jahr machte es mich wütend und traurig zugleich, dass er nicht einmal genug Interesse für mich aufbrachte, um an meinem Geburtstag anzurufen. Statt zum Telefon zu greifen, schickte er eine unpersönliche Mail, die vermutlich auch noch seine Sekretärin geschrieben hatte.
Ich hatte mir mein eigenes Leben aufgebaut, hatte einen Beruf, Freunde und ein hübsches Zuhause, trotzdem schaffte Dad es immer wieder, mir den Eindruck zu vermitteln, dass das alles nicht zählte. Dass ich nicht zählte. Er konnte mir mit einem einzigen Anruf – oder dem Ausbleiben desselbigen – das Gefühl geben, ausgeschlossen und allein zu sein.
Allein. So hatte ich meine Kindheit verbracht – bis ich Amber begegnet war. Mit ihren honigblonden Locken, den braunen Augen und der zierlichen Figur ist Amber nicht nur äußerlich das komplette Gegenteil von mir. Sie ist einer dieser Menschen, die überall sofort im Mittelpunkt stehen und die Herzen im Sturm erobern, während ich mich lieber zurückziehe. Wenn es um meine Stimmungen und Gedanken geht, hat Amber allerdings eine Art Radar entwickelt, mit dem sie zielsicher alle Schwingungen auffängt.
»Ich weiß, dass es schwer ist, Rachel«, sagte sie in die Stille zwischen zwei Songs hinein, »aber du bist mittlerweile alt genug, du hast dein eigenes Leben. Vielleicht ist es an der Zeit, loszulassen.«
»Du meinst, ich soll vergessen, dass ich einen Vater habe?«
Der nächste Song setzte mit einem Gitarrenriff ein und zwang Amber, die Stimme zu heben. »Nein, aber du solltest dich von dem Gedanken verabschieden, dass er sich je ändern wird.«
Seit neunzehn Jahren wartete ich darauf, dass genau das geschah. Eine plötzliche Einsicht, die mir den Dad zurückbrachte, den ich aus meinen ersten Lebensjahren kannte. Doch wann immer ich ihm begegnete, war er derselbe abweisende Fremde, zu dem Moms Tod ihn gemacht hatte. Womöglich war es wirklich an der Zeit, loszulassen. Aber wie sollte man den eigenen Vater vergessen?
Ein eigenartiges Gefühl überkam mich, kroch meinen Rücken hinauf in meinen Nacken und ließ mich schaudern. Als starre mich jemand an. Mir war klar, dass das lächerlich war. Dad saß wohl kaum auf der Rücksitzbank und verfolgte unsere Unterhaltung.
»Weißt du was«, meinte ich und versuchte, mein Unbehagen abzustreifen, »lass uns zumindest heute nicht mehr über ihn sprechen.«
Amber nickte und lenkte die Unterhaltung sofort auf die Frage, welche Kriterien ein Mann zu erfüllen habe, damit sie sich heute Abend in ein Gespräch verwickeln ließ. Während ich mich im Augenblick nicht darum riss, mich in eine Beziehung zu stürzen, war sie geradezu von dem Gedanken besessen, endlich ihren Mr Right zu finden. Sie hatte alles, was sich ein Mann nur
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