Rebellion Der Engel
explosionsartig gewachsen, während seine Abteilung gnadenlos unterbesetzt war und sie alle Hände voll zu tun hatten, um mit den akuten Fällen auf dem Laufenden zu bleiben. Warum trotzdem immer wieder Altfälle auf seinem Schreibtisch landeten, von denen die meisten sich im Laufe der Jahre ohnehin von selbst erledigt hatten, wusste nur der Chef allein.
Je schneller er sich darum kümmerte, desto eher konnte er wieder an seine eigentliche Arbeit gehen. Akashiel riss das Kuvert auf und zog das darin liegende Blatt heraus. Ein Blick auf den Betreff genügte ihm, um zu erkennen, dass es sich um eine routinemäßige Nachkontrolle handelte. Er musste lediglich einen Abstecher zu diesem Klienten machen, sich davon überzeugen, dass alles in Ordnung war, und schon konnte er die Akte schließen und seine Aufmerksamkeit wieder dem Tagesgeschäft widmen.
Akashiel überflog die Zeilen. Obwohl es bereits einige Jahre her war, erinnerte er sich noch gut an den Auftrag und auch an seinen Widerwillen, ihn zu übernehmen. Er kümmerte sich nicht gern um Kinder. Die meisten Fälle waren ohnehin Fehlalarme, da die verwöhnten Gören lediglich um himmlischen Beistand beteten, weil ihre Eltern den Kauf der neuesten Spielkonsole oder anderen Unsinns verweigerten.
Nicht so bei Rachel Underwood, einem sechsjährigen Mädchen, das seine Mutter bei einem Autounfall verloren hatte. Abend für Abend hatte die Kleine um einen Engelgebetet und in ihrer Traurigkeit nicht bemerkt, dass längst einer an ihrer Seite war. Akashiel hatte ihr positive Schwingungen geschickt, die es ihr erleichtern sollten, den Alltag zu meistern, doch was sie wirklich brauchte, hatte er ihr nicht geben können: einen Menschen, der für sie da war.
Sosehr er sich auch bemüht hatte, es war ihm nicht gelungen, zum Vater der Kleinen durchzudringen und sein Herz zu erweichen, damit er sich um seine Tochter kümmerte. Mehr hatte er nicht tun können, denn seinesgleichen war es verboten, sich zu zeigen. Früher hatten die Menschen seine Anwesenheit gespürt und seine Nähe willkommen geheißen, auch wenn sie ihn nicht sehen konnten. Heute gab es nur noch wenige, die überhaupt bemerkten, dass er da war. Die meisten hatten zu glauben verlernt.
Über mehrere Monate war er Nacht für Nacht bei Rachel gewesen, hatte über ihren Schlaf gewacht, die bösen Träume von ihr ferngehalten und ihr positive Gedanken eingeflüstert. Dann jedoch hatte ihm seine Arbeit keine Zeit mehr dafür gelassen. Trotzdem hatte er sich später noch oft gefragt, was wohl aus dem Mädchen mit den traurigen blauen Augen geworden sein mochte.
Heute würde er es erfahren.
Er prägte sich das Muster ein, in dem ihr Name auf das Papier geschrieben war, obwohl er ziemlich sicher war, dass er ihre geistige Signatur auch so wiedergefunden hätte, und schloss die Augen. Es hätte ihn nur einen winzigen Moment der Konzentration kosten sollen, um sie zu finden und sich zu ihr zu teleportieren. Zu seinem eigenen Erstaunen bedurfte es einer Menge mehr Energie, sie aufzuspüren.
Einen Herzschlag später fand sich Akashiel auf dem Rücksitz eines Wagens zwischen Jacken und zwei Handtaschen wieder. Das erklärte, warum es ihm so schwergefallen war, ihre Signatur auszumachen. Metall schirmte dasMuster des menschlichen Geistes ab und verhinderte seine Entdeckung. Hätte es sich nicht um ein Cabrio mit Stoffverdeck gehandelt, wäre es ihm überhaupt nicht gelungen, sie zu finden. Nicht, solange sie den Wagen nicht verließ.
Ein grauenvolles Gejaule, das die Menschen als Rockmusik bezeichneten, mischte sich mit dem Gelächter zweier junger Frauen. Rachel saß hinter dem Steuer. Ihr Blick schweifte immer wieder von der Straße, an deren Horizont die abendliche Skyline von Downtown Seattle näher kam, zu ihrer Beifahrerin. Die beiden Frauen waren in eine heiße Debatte vertieft, doch selbst wenn sie geschwiegen und ihrer Umgebung mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätten, müsste er sich keine Gedanken machen, entdeckt zu werden. Solange er nicht bewusst zuließ, gesehen zu werden, war er unsichtbar. Der Job verlangte es so. Es war die oberste Regel und sie hatte durchaus ihre Berechtigung. Sich einem Klienten zu zeigen, würde nur unnötiges Aufsehen erregen, das ihn von seiner eigentlichen Aufgabe ablenkte.
Auch wenn er es bedauerte, Rachel nicht einfach fragen zu können, wie es ihr ging – und während der letzten Jahre ergangen war –, wusste er, dass es so besser war. Ein paar Minuten stillen Beobachtens und
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