Rebellische Herzen
Die Dame müsste mir sehr viel bedeuten, damit ich mein Leben für sie aufs Spiel setze.«
Sie konnte sich nicht erklären, weshalb sie sich vorstellte, dass er mit alldem sein Interesse an ihr signalisieren wollte. Vielleicht weil sein Verhalten einen ähnlichen Aufruhr in ihr hervorrief. Heute Abend, als sie sich zufällig einen flüchtigen Blick auf ihn erlaubte, zeigte das flackernde Kerzenlicht einen gut gebauten Mann. Heute Abend fiel ihr auf, dass er seine Weste weggelassen hatte, genau wie er Schuhe, Strümpfe, Krawatte, Manschetten und Kragen weggelassen hatte … der Mann trug praktisch nichts als Hosen und ein Hemd, das weiß, lose und zerknittert an ihm herabhing. Und Unterwäsche, die trug er natürlich. Sicherlich tat er das.
»Ein wahrer Gentleman würde sein Leben für jede Dame riskieren.«
Sie hob den Kopf, das musste sie mindestens tun, denn sonst hätte sie ihn unvermeidlich noch weiter direkt angesehen. Sie musste diesen respektlosen Mann erbittert ansehen, und sie dachte
überhaupt nicht
an seine Unterwäsche, oder deren Fehlen. »Ein wahrer Gentleman denkt nicht ein Mal an seine eigene Gefährdung, sondern zeigt Mut und Furchtlosigkeit, selbst im Angesicht des Todes.«
»Ich würde zuerst an mich selbst denken.« Er rieb sich den Nacken. »Vielleicht die Dame aus dem Weg schubsen, aber ganz sicher nicht meinen Körper vor ein wild gewordenes Pferd werfen.«
Es gab ihr einen Stich als sie bemerkte, dass er sie auslachte. Er johlte nicht wie ein Rohling, sondern er zeigte nur die Unsinnigkeit des Ideals auf. Sehr gut. Wahrscheinlich hatte er Recht.
Wahrscheinlich gab es keine lebenden Gentlemen, die sich für ein ritterliches Ideal in Gefahr bringen würden, aber das musste sie ja nicht zugeben. Entschlossen, wieder die Oberhand zu gewinnen, blätterte sie demonstrativ ihr Buch durch. »Sie aus dem Weg zu schubsen ist ebenfalls vollkommen annehmbar. Der andere Grund, warum ein Gentleman immer zwischen der Straße und der Dame geht, ist, dass es in der Nähe eines Gebäudes wahrscheinlich sauberer ist.«
»Ja, die Dienstmädchen schütten in Ihrem London immer ihr stinkendes Spülwasser aus den obersten Fenstern.« Er legte sich flach auf den Rücken, starrte an die Decke und verschränkte die Hände vor dem Bauch. »Muss ein Gentleman sich auch zwischen eine Dame und
solche Dinge
werfen?«
Sie wünschte, das Spülwasser würde ihn jetzt sofort treffen. Sie richtete sich halb auf und hob ihr Buch an die Brust. »Ich habe den Eindruck, heute ist ein schlechter Abend für den Unterricht, Mylord. Vielleicht sollten wir ihn auf morgen Abend verschieben.«
Er rollte sich auf die Seite und schlug mit der flachen Hand auf den Teppich. »Nein! Heute Nacht!«
Sie zuckte zusammen. Einen Moment lang sah er im Feuerschein wild und grimmig aus, gar nicht wie der träge Pascha, an den sie sich gewöhnt hatte, sondern wie der Wüstenkrieger, den sie sich ausmalte. Aus Lady Ruskins Verhalten konnte Charlotte ersehen, dass es in der Stadt nicht zum Besten stand. Sie konnte aber nicht ergründen, ob es mit dem Geschäft oder mit der Gesellschaft zu tun hatte. Wenn es das Geschäft war, konnte Charlotte nichts tun. Aber das Gesellschaftliche … Mit einem Taktgefühl, auf das sie sich einiges zugutehielt, fragte sie: »Gibt es ein Problem hinsichtlich der Etikette, bei dem ich Ihnen behilflich sein könnte?«
»Etikette. Denkt ein Mensch in dieser gottverdammten Gesellschaft an irgendetwas anderes? Die Damen behaupten, ich hätte keine Manieren, aber ich behaupte, dass sie keinen Anstand haben.«
Charlotte schien es, als habe sie die Ursache für seine Verstimmung ausfindig gemacht. »Was tun diese Damen?«
»Sie verbreiten in ganz London Gerüchte über mich, falsche Gerüchte, dass ich ein Rüpel sei.«
Charlotte war ehrlich empört. »Das ist in der Tat ein falsches Gerücht, Mylord. Sie sind nicht mit allen Umgangsformen vertraut, aber ein Rüpel sind Sie beileibe nicht!« Oder vielleicht doch. Aber nur ein kleines bisschen.
»Lady Howard und Mrs. Morant sind bösartig.«
»Bald werden alle bösartigen Damen Londons Sie um Ihre guten Umgangsformen beneiden.«
»Umgangsformen! Sogar Sie! Denken Sie an nichts anderes? jeden Abend reden wir über mich.« Er tupfte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Was ich sagen soll und wie ich es sagen soll. Wie weit ich meinen Hut lüpfen soll und wann. Dass man den Weckdienst nachmittags bestellt, und was ich bei jeder Gelegenheit anzuziehen habe. Beim
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