Rebellische Herzen
Küchenmädchen, das gerade aus Großmutters Häuschen auf dem Land hierhergekommen war, wusste es jedenfalls ganz sicher nicht. In den letzten beiden Nächten hatte sie wach gelegen und Geräusche von oben gehört. Unheimliche Geräusche, wie gedämpfte Schritte. Einmal war sogar etwas auf den Boden gefallen und hatte dabei laut gescheppert. Etwas, das wie Metall klang, die Ketten, die in der Hölle für die Verdammten geschmiedet wurden.
Den Rücken an die Wand gedrückt, schlich sie den Gang entlang und zählte die Zimmertüren ab. Ihre Kammer war die Letzte auf der rechten Seite, bevor sich der Korridor krümmte und vor der Treppe endete, die zu den Speichern im vierten Stock führte.
Frances war schon mal auf dem Dachboden gewesen. Am ersten schönen Frühlingstag marschierte Miss Symes mit einer Armee von Dienstmädchen und -burschen ein, um den sechs Monate alten Schmutz auszufegen. Der große Speicher war nicht übel, mit stehenden Dachfenstern, die Licht hereinließen, und Nebenspeichern, die nach allen Richtungen abzweigten, manche kaum größer als Kleiderschränke. Frances bekam zitternde Knie, als sie da reinkriechen und ausfegen musste.
Jetzt wünschte sie sich, ihre Kammer läge näher bei der von Miss Symes. Kein Gespenst – oder auch nur eine Maus – wagte es, die Furcht erregende Hausmeisterin zu stören.
Nur eine Tür bevor Frances am Ziel gewesen wäre, hörte sie das lange, dürre Quietschen eines ungeölten Scharniers. Sie erstarrte beinahe atemlos, hoffte, dass sie sich irrte, dass sie sich verhört hatte. Aber nein – sie sah am gekrümmten Ende des Korridors einen matten Lichtschein, fast so als hätte jemand oder etwas die Speichertür geöffnet.
Sie hörte ein entferntes Schlurfen, dann ein schweres Stöhnen und noch einmal das quietschende Scharnier.
Den anderen Dienstmädchen erzählte sie am nächsten Tag, dass ihr die Haare zu Berge gestanden waren. Sie trat einen Schritt zurück, dann noch einen, den Blick fest auf die dunkle Stelle gerichtet, an der sich der Korridor bog. Das Licht kam näher und Frances konnte leise Schritte hören.
Jemand spielte hier einen Streich. Oder jemand versteckte sich auf dem Dachboden, um Miss Symes und ihrer unvergänglichen Bienenwachskerze zu entgehen. Oder …
Etwas kam um die Ecke. Etwas Kurzes in einem weißen fließenden Gewand, das eine Kerze dicht vor sein fürchterliches Gesicht hielt.
Frances kreischte sich die Lunge aus dem Leib. Dann kreischte sie noch mal, und dann rannte sie den Korridor hinab, während Zunderschachteln klapperten, Türen sich öffneten und die Geistergestalt sich aus dem Staub machte.
Kapitel 12
Um ihr Gedächtnis für den heutigen Abendunterricht aufzufrischen, schlug Charlotte das Notizbuch auf, in dem sie die Benimmregeln für Gentlemen festgehalten hatte. »Ach ja.« Sie versuchte, es sich in den Kissenhaufen vor dem Kaminfeuer auf schickliche Art so bequem wie möglich zu machen, während Wynter auf dem Teppich lümmelte. »Heute Abend sprechen wir über das Benehmen des Gentlemans in der Stadt.«
Wynter ächzte, stopfte ein Kissen unter die Achsel und legte den Kopf in die Hand.
Sie grub ihre bestrumpften Zehen in den Teppich. »Ein Gentleman geht immer zwischen der Dame und der Fahrbahn, denn auf diese Weise wirkt sein Körper wie ein Schutzschild gegen durchgehende Pferde.«
»Und wenn ich die Dame nicht mag?«
Sie schaute unbeirrt in ihr Buch und gab vor, nicht zu bemerken, wie nah sein nackter Fuß ihrem Bein kam, das unter ihrem Rock hervorlugte. Nutzte er jetzt doch noch die Abgeschiedenheit des Zimmers aus?
Die ganze vergangene Woche über hatte es nicht den Anschein gehabt, als würde er ihren Vorträgen zuhören, erst recht nicht, dass er sie begehrte. Er aß, entspannte sich völlig, schürte das Feuer und schnitt die Kerzen zurecht. Trotzdem fand sie keinen Anlass zum Tadel, denn wenn sie ihn über die Pflichten des englischen Gentlemans ausfragte, gab er immer korrekte Antworten. Der Verdacht, den er in der Gemäldegalerie bei ihr geweckt hatte, hatte sich zerstreut. An seine Stelle war jetzt ein Gefühl der … Eintönigkeit getreten.
Aber heute Abend war es anders. Er beobachtete sie unauffällig, er rückte ihr unter dem Vorwand der Ruhelosigkeit immer näher. Er war streitlustig.
»Ich verstehe Ihre Frage nicht, Mylord.«
»Lady Miss Charlotte, Sie sagen, ich soll mich zwischen eine Dame und ein durchgehendes Pferd werfen, doch solch eine Hingabe scheint mir gefahrvoll zu sein.
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