Rebus - 09 - Die Sünden der Väter
sich bis auf ein knappes Dutzend Soldaten mit nachlässig umgehängten Gewehren. Sie plauderten, kickten mit den Stiefeln Kiesel in die Luft, tauschten Scherze und Zigaretten aus. Einer von ihnen ging in die Bar und schaltete das Radio ein. Jazzmusik erfüllte die Luft und wetteiferte mit dem Rauschen der Blätter, als eine Brise die Leichen in den Bäumen schaukeln ließ.
»Es war seltsam«, sagte das Mädchen später. »Ich hatte aufgehört, sie als Tote zu betrachten. Es war so, als wären sie zu etwas anderem geworden, als wären sie jetzt Teil der Bäume.«
Dann die Explosion, Rauch- und Staubwolken, die aus der Kirche quollen. Ein Augenblick der Stille, als sei ein Vakuum in der Welt entstanden, dann Schreie, unmittelbar gefolgt von Maschinengewehrfeuer. Und als dieses endlich verstummte, konnte sie es immer noch hören. Denn es war nicht nur in der Kirche, es kam auch aus der Ferne.
Aus Prudhommes Scheune.
Als sie endlich - von Leuten aus den umliegenden Dörfern - entdeckt wurde, war sie nackt, lediglich in einen Schal gehüllt, den sie in einem Schrankkoffer gefunden hatte. Der Schal hatte ihrer Großmutter gehört, die das Jahr zuvor gestorben war. Aber sie war nicht die Einzige, die das Massaker überlebt hatte. Als die Soldaten in Prudhommes Scheune das Feuer eröffneten, hatten sie tief gezielt. Die erste Reihe von Männern, die zu Boden ging, war in Beinen und Unterleib getroffen worden, und die Körper, die anschließend auf sie fielen, schützten sie vor weiteren Kugeln. Als der Haufen mit Stroh und Reisig bedeckt und in Brand gesetzt worden war, hatten sie so lang wie möglich ausgehalten und sich dann nach oben gekämpft - und dabei jeden Augenblick damit gerechnet, erschossen zu werden. Vier von ihnen schafften es, zwei mit brennenden Haaren und Kleidern; einer erlag später seinen Verletzungen.
Drei Männer, ein junges Mädchen: die einzigen Überlebenden.
Die genaue Zahl der Todesopfer wurde nie ermittelt. Niemand wusste, wie viele Fremde sich an dem Tag in Villefranche aufgehalten hatten, wie viele Flüchtlinge dazugezählt werden mussten. Es wurde eine Liste von über siebenhundert Namen erstellt: Menschen, die aller Wahrscheinlichkeit nach getötet worden waren.
Rebus saß an seinem Schreibtisch und rieb sich mit den Fäusten die Augen. Das junge Mädchen war noch am Leben, mittlerweile eine Rentnerin. Die männlichen Überlebenden waren inzwischen alle gestorben. Den Prozess in Bordeaux im Jahr 1953 hatten sie allerdings noch erlebt. Ihm lagen Zusammenfassungen ihrer Aussagen vor, auf Französisch. Ein großer Teil des Materials auf seinem Schreibtisch war auf Französisch, das Rebus nicht beherrschte. Deswegen war er zum Seminar für moderne Sprachen gegangen und hatte jemanden gefunden, der es konnte. Dieser Jemand hieß Kirstin Mede und unterrichtete Französisch, verfügte aber auch über gewisse Deutschkenntnisse, was von Vorteil war; denn die nicht in Französisch abgefassten Dokumente, waren auf Deutsch. Er verfügte lediglich über eine einseitige englische Zusammenfassung der von den Nazijägern zur Verfügung gestellten Prozessakten. Die Verhandlung hatte im Februar 1953 begonnen und einen knappen Monat gedauert. Von den fünfundsiebzig Männern, die nachweislich zu den deutschen Streitkräften in Villefranche gehört hatten, waren lediglich fünfzehn anwesend gewesen: sechs Deutsche und neun Elsässer. Nicht einer von ihnen war Offizier gewesen. Ein Deutscher wurde zum Tod verurteilt, die anderen erhielten Haftstrafen zwischen vier und zwölf Jahren, aber sie wurden alle nach Prozessende auf freien Fuß gesetzt. Das Elsass hatte die Verhandlung nicht gutgeheißen, und in ihrem Bestreben, die Nation zu einen, hatte die Pariser Regierung eine Amnestie erlassen. Und die Deutschen, hieß es, hätten ihre Haftstrafen inzwischen schon abgebüßt.
Die Überlebenden von Villefranche waren entsetzt gewesen.
Eines fand Rebus allerdings noch verblüffender: Die Briten hatten ein paar deutsche Offiziere festgenommen, die an dem Massaker beteiligt gewesen waren, sich aber geweigert, sie den französischen Behörden auszuliefern. Schickten sie stattdessen nach Deutschland zurück, wo sie, völlig unbehelligt, ein langes Leben in Wohlstand genießen konnten. Wenn Linzstek damals gefasst worden wäre, hätte es die ganze jetzige Aufregung nicht gegeben.
Politik. Es war alles Politik. Als Rebus aufsah, stand Kirstin Mede vor ihm. Sie war groß, gut gebaut, tadellos gekleidet und hatte
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