Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rechnung offen

Rechnung offen

Titel: Rechnung offen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
Vom Netzwerk:
musst, damit beim Schütten in die Kästen nichts runterfällt. Wirst immer schneller, schwitzt, dein Körper reckt sich zu allen Seiten gleichzeitig, immer rechtzeitig, immer in Bewegung.
    Die anderen wollen nicht nach hinten, haben Angst um ihr Make-up, vor Dampf, Schweiß, aufgequollenen Händen, geröteter Haut. Wenn du Frühschicht hast, hilfst du beim Aufbauen, hängst die gespülten Gebäckzangen an die Ketten neben den Kästen, stapelst die Tabletts, die Papiersets in die Displays. Kontrollierst die Kühlregale, die Haltbarkeitsdaten, riechst an den Joghurts mit Früchten vom Vortag, bis die ersten Kunden kommen.
    Reyhan arbeitet vorne, geht rauchen, als der Regen nachlässt.
    »Mach die Kasse«, ruft sie und zieht die Tür hinter sich zu.
    Die Hocker vor dem Schaufenster sind alle besetzt, sie sitzen mit den Rücken zu dir, auf den Schultern dunkle, feuchte Streifen, Tropfen laufen aus ihren Haaren. Eine der Frauen tupft sich den Hals ab, mit einer Serviette. Das dünne Papier reißt, sie tastet nach den Fetzen, reibt sie in hellen Würsten von der Haut. Die Scheiben sind beschlagen, dahinter bunte Flecke, ohne Umrisse, Linien, Grenzen, nur Farben, die vorbeieilen.
    Als die Frau zur Kasse kommt, kleben noch immer helle Dreiecke an ihrem Hals, direkt unter der kinnlangen blonden Haarkante.
    »Da hängt noch Papier«, sagst du, tippst die Warennummer ein.
    »Hallo, Manuela«, sie tastet ihren Nacken ab, »siehst besser aus als letztes Mal.«
    Hanne heißt sie, hast sie nicht erkannt, nimmst die Münzen, die sie dir hinhält.
    »Ich arbeite hier.«
    »Was macht der Kleine?«
    Du zählst das Wechselgeld ab, ihr habt früher zusammen in der Pflege gearbeitet, sie war eine der Älteren, Geologin eigentlich, hat sie immer betont.
    »Gut«, einundsiebzig Cent bekommt sie zurück, »und dir?«
    »Ich wische immer noch Ärsche«, Hanne lächelt, »für nicht mal fünf Euro die Stunde, und dankbar musst du auch noch sein.« Sie deutet auf ihre Oberlippe, »ich bin zwei Mal die Woche hier, Haarentfernung, nebenan.«
    Abends bist du meist die Letzte, »geht ruhig«, sagst du zu den anderen, das Licht im Verkaufsraum ist bereits ausgeschaltet. Stellst die Bleche in den Spüler, wischst die Kästen aus, still ist es, nur das gleichmäßige Brummen der Maschine. Sprühst den weißen Schaum in jeden Winkel der Öfen, fegst den Boden, während er einwirkt, hellbraune Kronen bekommt. Siehst den schnellen Kreisen zu, mit denen Hand und Schwamm eingebranntes Fett lösen, Tropfen laufen aus deinen Achseln, kitzeln über die Rippenbögen, versickern im Stoff des T-Shirts.
    Bevor du heimgehst, setzt du dich auf die Stufe vor der Ladentür, rauchst eine, das heruntergelassene Gitter im Rücken, unter deiner Jacke kühlt der Schweiß aus. Hebst die Arme, um sie gleich wieder fallen zu lassen, ein Schwall Luft steigt aus dem Kragen auf, der riecht wie deine Mutter.
    Hast dir die Achselhöhlen mit dem Waschlappen ausgerieben, als Lucas klein war, hast gerieben, gerochen, mehr Seife, mehr Wasser, der Fußboden vor dem Waschbecken, deine Socken nass, alte Buttersäure und süßliche Seife, hast gerieben, bis die Haut rot war. Hast dich abgetrocknet, die Arme über dem Kopf verschränkt, die Achselhöhlen brannten, sobald du sie runternahmst. Hast auch nie Kinder mit nach Hause gebracht.
    »Wir sehen uns«, hat Hanne zum Abschied gesagt.
    ***
    Camille saß nicht oben auf den Stufen vor seiner Wohnung, sie stand unten, neben dem Klingelbrett, an die Haustür gedrängt, als würde der Nieselregen sie dort nicht erreichen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, sobald sie ihn kommen sah, ließ sich wieder auf die Fersen fallen, die Bommeln an den Schnüren ihrer Kapuze hüpften.
    »Vor deiner Tür sitzt ein Mann«, rief sie.
    An ihrer Nasenspitze zitterte ein durchsichtiger Tropfen, fiel hinab auf ihre Jacke, sie wollte einen Arm um ihn legen, Nicolai schloss die Tür auf, den feuchten Fleck fest im Blick.
    »Der Mann ist unheimlich«, sagte sie.
    »Was ist an Halbglatze, Jacketkronen und Cordhose unheimlich?«
    Sie fing den Schwung der Tür auf, folgte ihm, in Eile, versuchte auf der Treppe dicht hinter ihm zu bleiben.
    »Du kennst ihn?«
    »Nein.«
    Die Treppe ein Stockwerk höher knarrte, Helge war aufgestanden. Nicolai suchte im Gehen nach dem richtigen Schlüssel, umfasste ihn fest mit der Hand, begann, zwei Stufen auf einmal zu nehmen, Augen geradeaus.
    »Warte«, sagte Camille hinter ihm.
    Geschwindigkeit und Überraschung, dachte er,

Weitere Kostenlose Bücher