Rechnung offen
Augen geradeaus, nicht hinhören, nur den Schlüssel ins Schloss schieben, drehen, Tür auf, Tür zu. Einen Augenblick später lehnte er von innen am Holz, hörte Camille auf der anderen Seite seinen Namen rufen, sie klang, als wäre sie erstaunt.
»Baumgärtner«, sagte Helge, »guten Abend. Ich bin Nicolais Stiefvater. Machen Sie sich keine Sorgen, er schämt sich nur.«
Helge war der Einzige, den sie mit nach Hause gebracht hatte, wenn er da war oder wach. Sängerin war Ursula gewesen, »Mimimimi, wer ist lauter?« hatten sie gespielt, im Bad. Die Münder wenige Zentimeter von der hellblau gekachelten Wand entfernt, den weißen Fugen, er gewann fast immer, weil Ursula lachen musste, »Zwergfell bitte«, sagte Nicolai dann, und sie lachte noch mehr.
Als er klein war, hatte sie noch gesungen, Nebenrollen in kleinen Stadttheaterproduktionen, beinahe jede Spielzeit waren sie umgezogen, Paderborn, Münster, Göttingen. Nach seiner Einschulung waren sie in München geblieben. »Mein kleiner Falter« hatte sie ihn genannt. Sie hatte unterrichtet, an der Musikhochschule, Einzelstunden bei ihnen zu Hause. Wenn die Schüler klingelten, war sie in sein Zimmer gekommen, hatte den Zeigefinger auf den Mund gelegt, »du kriegst ein Calippo-Eis« gesagt. »Zwei«, war seine Antwort gewesen, meist hatte sie eingewilligt. Später hatte sie halbtags in einem Musikgeschäft gearbeitet, Jazznoten für Klavieranfänger hatte Helge gesucht. »Kleiner« nannte Helge ihn, und »Manneken Pis«.
»Er ist gut zu mir«, hatte Ursula gesagt, als würde sie sich entschuldigen. An den Wochenenden fuhr Helge mit ihr zu Opernaufführungen, Kammerkonzerten, vorher hielt er sie im Wohnzimmer am langen Arm von sich weg. »Dreh dich«, sagte Helge, ihr blauer, roter, schwarzer Kleidsaum schwang, »meine Göttin«, sagte Helge. Sie fuhren zu Festspielen, »du brauchst nicht mitkommen, wenn du nicht willst«, nach Bayreuth, Salzburg, Wien. Helge fand Lehrer für sie, Stimmbildung, Schauspiel, und zahlte still. Helge saß mit ihrer Tasche auf den Knien und wartete, wenn sie Vorsingen hatte. Helge sah vorher im Auto milde lächelnd über ihre gereizte Aufgeregtheit hinweg. Helge stand nachts im Blauweiß des Kühlschranklichts, nahm die Milch aus dem Fach, sagte, »Sex macht durstig«, setzte die Packung an und schluckte gierig. Sein Penis gerötet.
Helge hatte Erika gefunden. Seine Hand lag auf Ursulas Schulter, drückte sie von Zeit zu Zeit sanft, als sie mit ihr telefonierte. Sie sei mit der Mutter befreundet gewesen, hatte Erika gesagt, alleinstehend und berufstätig sei die Mutter gewesen.
Helge hatte still neben den blauen Adern an Ursulas Schläfen gesessen, den Dellen auf ihrem Schädel. Nicolai hatte immer geglaubt, Schädel seien rund, doch nach und nach waren Kuhlen sichtbar geworden. Helge sprach von Werten, T-Zellen und nannte Koeffizienten. Notierte seine Fragen an den Arzt auf einem Block, suchte seine Brille und schrieb die Antworten auf, unterstrich die Ausdrücke, die er nachschlagen wollte, mit Schlangenlinien.
Helge hatte ein Doppelgrab gekauft, einen rötlichen Granitstein, sein Name, in bronzenen Buchstaben, wurde in einer durchsichtigen Plastiktüte mitgeliefert. Die Tüte hatte eine Weile auf der Anrichte in der Küche gelegen, nur die Sterbezahlen fehlten. Weil sie Kirschen gern mochte, so hatte Helge seine Sargwahl begründet. Hatte gewonnen, sich ihrer endgültig bemächtigt, sie fest weggeschlossen in Erde und Kirschholz.
Montag, 22. September
Lucas geht in sein Zimmer, bringt den Ranzen weg. Du hast Spätschicht, der Kaffee ist alle, findest ein Päckchen Cappuccinopulver in der Schublade.
»Tschüs«, Lucas steht in der Küchentür.
»Hast du Hunger«, fragst du, warst nicht einkaufen.
»Lass«, er deutet auf die Cornflakes.
Nimmst die Packung vom Regal, hältst sie ihm hin.
»Wir gehen schwimmen«, er streckt den Arm aus, schiebt die Hand zwischen die offen stehenden Papplaschen, zieht sie als Faust wieder hervor, »Ümits Mutter fährt uns.«
Neben der Küchentür liegt sein Turnbeutel, er hebt ihn im Rausgehen auf, ruft erneut, »Tschüs«, und schließt die Wohnungstür.
Stellst dich ans Fenster, Lucas überquert die Promenade, der Beutel hängt an seinem Handgelenk, er tritt im Gehen dagegen, der Beutel fliegt, bis die Leine spannt, schwingt zurück, gegen seine Beine, seine Knie, er tritt ihn erneut. Ein Pärchen kommt ihm entgegen. Sie ziehen einen Koffer, ziehen ihn gebückt, jeder mit einer Hand am
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