Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rechnung offen

Rechnung offen

Titel: Rechnung offen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
Vom Netzwerk:
Bügel, der Koffer rattert über den Sandweg und kippt nicht um.
    Hattest auch so einen, Hartschale, mit vier winzigen Rollen unten und einem klappbaren viereckigen Plastikgriff vorn.
    In den Ritzen zwischen den grauen Steinplatten wuchs Unkraut, die Halme haben an deinen bloßen Waden gekitzelt, als du ihn über den Bahnsteig zogst, auf die abschüssige Rampe zu. Die Fernzüge hielten damals am Bahnhof Lichtenberg, bei jeder Ritze klackten die Rollen, ihr sonores Summen rhythmisch unterbrochen. Biegsames Grün wickelte sich um die Aufhängungen, hast nach den Halmen getreten, wenn sie deine Haut berührten, leicht, wie Insekten, hast versucht, sie flachzudrücken. Der Griff hatte zwei parallele rote Striemen in deine Handfläche gepresst, hattest nach irgendwas treten müssen. Hast dich auf der Rampe vom Koffer ziehen lassen, als wenn der wüsste, wohin. Lange hat es gedauert, bis du auf dem Plan die richtige S-Bahn-Linie fandst, Lila war sie, »Lila, der letzte Versuch«, hat dein Vater immer gesagt.
    »Eine Woche«, hatte Connie gesagt, sieben Tage, nicht länger.
    Stellst den Wasserkocher an, schiebst die Hand in die Cellophantüte, die Cornflakes fühlen sich rau an, hast Lucas oft dabei zugesehen, er isst erst die, die zwischen den Fingern hervorsehen, dann Stück für Stück das Häuflein von der Handfläche, zuletzt sammelt er die kleben gebliebenen mit den Lippen ab. Ziehst eine Handvoll hervor, steckst einen nach dem anderen in den Mund, bis der Kaffee durchgelaufen ist.
    Deine Mutter war nicht mit zum Bahnhof gekommen, hat vorsichtig ihre Arme um deine Taille gelegt, »dein Zimmer wartet auf dich« in deine Haare geflüstert. Hast den vertraut stechenden Schweiß eingeatmet, hast genickt, hast gewusst, du kommst nicht wieder. »Ein Trauersee steht still im Wald, aus dem steigt abends Dunst auf und tanzt mit den Regenelfen«, hat dein Vater zum Einschlafen oft vorgelesen, du hast gern mitgesprochen. Bis er gesagt hat, wenn die Regenelfen weg seien, könnt ihr ins Schlafzimmer und die Vorhänge aufziehen und deine Mutter würde aufstehen.
    Bist am S-Bahnhof Marzahn ausgestiegen, das Schwesternheim war ein Plattenbau. »Nicht länger als eine Woche«, hatte Connie wiederholt, als sie dir den Schlüssel gab. Ihr Zimmer war fast leer, grauer PVC -Boden, kalt unter bloßen Füßen, ein nicht bezogenes Bett, ein heller Furnierschrank, ein dazu passender Tisch mit zwei Stühlen. Hattest keine Bettwäsche dabei, »am S-Bahnhof ist Kaufland«, hatte Connie geantwortet und war zu ihrem Freund gefahren. Hast dir morgens Pulverkaffee mit heißem Wasser aus dem Boiler gemacht, die Tasse abgewaschen, bevor du los bist. Hattest nach drei Tagen eine Wohnung, Charlottenburg, Parterre, die Fenster vergittert, vierundzwanzig Quadratmeter, eigentlich nur zwei Flure, einer mit Hochbett, der andere mit Küchenzeile, ein schmales WC , in das hinten die Dusche eingebaut war. Konntest sofort einziehen, darum hast du sie genommen, hast Connie nicht Bescheid gesagt, ihren Schlüssel in den Briefkasten geworfen.
    Das Lämpchen des Kochers geht aus, hörst Blasen aufsteigen, leerst das Päckchen in eine Tasse, gießt Wasser drüber. Das Pulver löst sich nicht sofort auf, Klumpen kreiseln zwischen hellem Schaum auf der Oberfläche, brechen auf, Hellbraunes kommt hervor.
    Apathisch hat in einem deiner Zeugnisse gestanden, in der Zeile Betragen in der Schule . Hast einen Job als Springer gefunden, in einem Steakhaus, hattest Angst vor den Gästen, mochtest sie nicht ansehen, »wie bitte« haben sie ständig gefragt, »Sie müssen lauter sprechen« gesagt. Solltest am nächsten Morgen um acht da sein, in der Küche helfen, hast auf dem Hochbett gelegen, zum Fenster rausgeschaut, es war sehr hell draußen, die Vorbeigehenden im T-Shirt, hast immer wieder du musst aufstehen gedacht.
    Nimmst die Tasse mit rüber ins Wohnzimmer. Wickelst die Decke um deine Hüfte, steckst das Ende vor deinem Bauch fest, im Fernsehen läuft ein Tierfilm. Schaltest den Ton ein, hast Spätschicht. »Nur die Weibchen jagen«, sagt der Sprecher, zwei Löwinnen treiben eine Antilope in einen Tümpel, das Wasser lehmrot.
    Hast ihn in der S-Bahn kennengelernt, brauchtest ein Taschentuch, er war älter als du. Am Anfang seid ihr an den Kanal gegangen, habt verknäuelt auf einer Decke im Gras gelegen und übers Wegfahren gesprochen. Er wollte nach Australien, du nach Marokko, gelbe Wüste, und weil dir das Wort gefiel. Habt abends Bier getrunken, Selbstgedrehte

Weitere Kostenlose Bücher