Rechnung offen
gestützt, Kinn auf die Handfläche, Zigaretten, Feuerzeug und Aschenbecher in Reichweite, die andere Hand hatte auf dem kleinen Radio gelegen. Er hörte die Sportsendungen oder drehte an dem Rädchen und suchte die Sportsendungen, jeden Abend, und sagte nichts.
Nach seiner Pensionierung hatte er den ganzen Tag dort gesessen, Füße in der Schüssel, die Haut weiß aufgequollen, jede Falte, übergroß, sein Kopf aufgestützt, die Hand auf dem Radio. Sie hatte ihn einmal bei der Arbeit gesehen, in Sagres war sie gewesen, Schulausflug, er blieb stumm, als er das Abteil betrat, grüßte nicht zurück, betrachtete nur die Hände, nickte, wenn sie ihm die Fahrkarten reichten, knipste und drehte sich bereits zum Nächsten, als er sie zurückgab. Sie war nicht sicher, ob er sie gesehen hatte, die Lehrerin hatte eine Gruppenkarte gelöst.
Dienstag, 30. September
Lucas lauschte in den Hausflur, die alte Frau war nicht zu hören, sie wohnte im Zweiten. Sie hatte angefangen, ihm Süßigkeiten zu schenken, wenn sie sich im Treppenhaus trafen. »Augen zu und Hände auf«, sagte sie dann, und er hielt die Hände vor sich, mit den Innenflächen nach oben und blinzelte nicht. »Ich warte, bis nichts mehr flattert«, sagte sie, irgendwann hatte Lucas verstanden, dass sie von seinen Augenlidern sprach. Er hörte, wie sie den Verschluss ihrer Handtasche, zwei goldene Stäbe mit Kugeln an den Enden, öffnete. Die Tasche roch süßlich, ein Geruch, der sich in der Nase wie Staub festsetzte, er verspürte den Drang, Rotz hochzuziehen, das mochte sie nicht. Hatte ihm mit dem Fingerknöchel auf den Schädel geklopft, »nimm ein Taschentuch« gesagt, als er es einmal gemacht hatte. Er versuchte, nicht zu atmen, und zählte still, bis sie ihm etwas Kühles auf die Hände legte. Lucas hatte gelernt am Gewicht zu erkennen, was sie aus der Tasche holte. »Augen auf«, kommandierte sie, die Süßigkeiten befanden sich in Gefrierbeuteln. In Stanniolpapier verpackte Schokoriegel, ohne die Pappschachtel, in die sie gehörten. Verklebte Gummibärchenklumpen ohne Tüte. Zerbröselte Kekse, der geschmolzene Schokoladenüberzug auf dem durchsichtigen Plastik verschmiert. Trotzdem musste er jedes Mal überrascht die Augen aufreißen, »Danke schön« sagen. Musste probieren, während Frau Streml danebenstand, ihr versichern, dass es gut war.
Die Kekse warf Lucas in die Abfalltonnen im Hinterhof. Die Gummibärchen zog er zwischen den Fingern lang, drehte die Enden gegeneinander, bis sie durchrissen, er aß erst das kleinere und dann das größere Stück. Die Schokolade hatte ihn mehr Überwindung gekostet, sie schmeckte, wie die Handtasche roch, und ganz hinten auf der Zunge und im Rachen war sie scharf.
Letztes Mal hatte sie auf seine Schuhe gedeutet, die unterste Gummischicht der Sohle hatte sich an der Spitze abgelöst, hing ein wenig herunter, manchmal klemmten Steinchen dazwischen, wenn er abends nach Hause kam. »Deine Mutter muss mit dir zu Beck gehen, dem Schuster vorne an der Straße.« – »Stört mich nicht«, hatte Lucas geantwortet, an der Straße war kein Schuster.
Die Beutel brachte er in sein Versteck. Sie war wütend geworden, als sie einen in seiner Schreibtischschublade gefunden hatte. »Dieb« hatte sie ihn genannt, an den folgenden Tagen ihr Portemonnaie versteckt. Seitdem brachte Lucas sie in den Keller. Er hatte dort Karatetritte geübt, an den Türen der Verschläge. Hatte sich das Bein aufgeschrammt, als die erste Latte brach. Hatte die Schramme untersucht, die Haut auseinandergezogen, Blutvergiftung, Blutvergiftung, die dunkelrosa Streifen sahen sauber aus. Rost war gefährlich, Holz nicht, entschied er. Hatte seine Turnschuhsohle gegen die nächste Latte gedrückt, vorsichtig sein Körpergewicht auf den Fuß verlagert, bis sie knirschte. Er blieb mit dem Anorak hängen, als er sich durch den Spalt zwängte, er war in einem Raum mit Rohren und Kabeln und an die Wand geschraubten Kästen. In den meisten Kästen waren Zähler, einer war leer gewesen, er ließ sich mit einem kleinen Haken verschließen, sein Versteck. Er hatte es Ümit zeigen wollen, aber Ümit wollte zu Karstadt.
***
»Du ziehst aus«, sagte Theresa, nicht: Ich will, dass du ausziehst, oder: Es wäre besser. Sie stellte es schlicht fest, ehe sie ihre Arme hob, ihm die Hände entgegenstreckte, Claas roch Parfum, Opium, sie drückte ihn gegen ihren Oberkörper, er konnte ihre Brüste fühlen, sie drückte ihn kurz an sich, gab ihn wieder frei, und Claas
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