Rechtsdruck
und T-Shirt sichtbar, der sich zwischen
den Polizisten hindurchzwängte und nur Sekundenbruchteile später die Wohnungseingangstür
aufriss. Mit einem einzigen Satz war er im Flur und aus dem Blickfeld der Beamten
verschwunden. Obwohl Hain schnell schaltete und mit minimaler Verzögerung die Verfolgung
aufnahm, hatte der Flüchtende das Überraschungsmoment auf seiner Seite und ein paar
Augenblicke Vorsprung herausgeholt, die sich schlagartig dadurch vergrößerten, dass
der Oberkommissar mit Sonja Wennemeyer kollidierte, die mit einer einzigen Bewegung
den gesamten Flur blockiert hatte. Gemeinsam lagen sie für ein paar Sekundenbruchteile
vor einem überquellenden Schuhschrank.
»Weg da!«, brüllte Hain sie an, war schon wieder auf den Beinen und
nahm die Verfolgung auf. Sein Boss hatte bereits sein Telefon in der Hand und drückte
darauf herum.
Hain war schnell, aber an diesem Morgen nicht schnell genug. Obwohl
er immer vier oder fünf Stufen auf einmal nahm, vergrößerte sich Bilgins Vorsprung
von Stockwerk zu Stockwerk. Als er an der gelben, aufgemalten ›3‹ vorbei hastete,
realisierte er, dass er vermutlich verloren hatte, denn unter ihm wurde in diesem
Moment die Haustür aufgerissen. Trotzdem jagte er weiter die Treppen hinunter, hatte
keine 20 Sekunden später ebenfalls den Ausgang erreicht und starrte auf den Boden,
wo sich im Schnee deutlich frische Spuren abzeichneten. Irgendwo links von ihm wurde
ein Motor gestartet, der kurz danach aufheulte und sich schnell entfernte.
»Verdammte Scheiße«, murmelte der Polizist mit auf den Oberschenkeln
liegenden Händen, und rang dabei nach Luft.
*
»Und Sie wollen uns allen Ernstes erzählen, dass Sie nicht wussten,
dass Ihr Freund hinter der Schlafzimmertür auf uns lauerte?«, fuhr Lenz die junge
Frau an, die wie ein Häufchen Elend auf einem Küchenstuhl saß und weinte.
Sie nickte unsicher.
»Mit welchem Wagen hat er sich aus dem Staub gemacht?«, wollte Hain
von ihr wissen.
»Er fährt einen alten Ford. Einen Fiesta.«
»Das Kennzeichen und die Farbe?«
Sie nannte ihm die Zulassungsnummer, die der Oberkommissar sofort per
Telefon weitergab.
»Farbe?«
»Silber.«
»Sie haben uns nach allen Regeln der Kunst verladen«, zischte er, nachdem
das Gespräch beendet war.
»Aber …«
»Hören Sie auf mit dieser Aber-Scheiße«, unterbrach der Oberkommissar
sie barsch, der ihr mit hochrotem Kopf gegenüber saß und noch immer keuchte. »Und
wenn Sie sich noch so anstrengen, es wird Ihnen nicht gelingen, mich davon zu überzeugen,
dass Sie mir unabsichtlich in den Weg gesprungen sind.«
»Aber …«, begann sie wieder, wurde sich jedoch schlagartig der Tatsache
bewusst, dass dieses Wort im Augenblick nicht opportun war.
»Ich schwöre Ihnen, dass ich nur sehen wollte, was da passiert«, verbesserte
sie sich. »Ich wusste doch nicht, dass Kemal wie ein Irrer aus dem Schlafzimmer
stürmen würde. Und ich weiß doch bis jetzt auch gar nicht, worum es hier eigentlich
geht.« Dicke Tränen liefen über ihr Gesicht, während sie sprach.
»Dann reden wir jetzt mal Klartext«, schrie Hain, der wirklich zornig
war. »Vor ein paar Stunden sind nämlich der Vater, die Mutter und der kleine Bruder
Ihres flotten Freundes umgebracht worden. Und wie es der Zufall will, gab es heute
am frühen Abend einen bösen, lauten und heftigen Familienzwist, an dem Ihr Kemal
offenbar erste Reihe Mitte beteiligt war.«
Sonja Wennemeyer starrte zuerst Hain und danach Lenz mit blutleerem
Gesicht an. »Das kann doch gar nicht sein. Wieso denn umgebracht? Wie ist das denn
passiert?«
»Die drei wurden vor ein paar Stunden in ihrer Wohnung in der Nordstadt
erschossen.«
»Erschossen? Alle drei? Mein Gott. Aber Sie glauben doch nicht, dass
Kemal … Das ist doch total irre, was Sie da sagen!«
»Und warum hat er dann mit so viel Tempo die Biege gemacht?«
Wieder schluchzte die Frau laut. »Das weiß ich doch auch nicht«, erwiderte
sie mit einer Mischung aus Trotz und Unverständnis, »aber Kemal hat seiner Familie
nichts angetan. Das hätte er gar nicht gekonnt. Niemals!«
»Was macht Sie da so sicher?«, wollte Lenz in ruhigem Ton von ihr wissen.
Sie musste ein paarmal tief Luft holen, bevor sie antworten konnte.
»Kemal und sein Alter haben sich nicht gut verstanden, das stimmt. Aber er hat immer
respektvoll von ihm gesprochen, obwohl er ihn für einen religiös verblendeten Spinner
gehalten hat. Und seine Mutter und seine Geschwister hat er geliebt, für die
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