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Rechtsdruck

Rechtsdruck

Titel: Rechtsdruck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P. Gibert
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er sich nicht richtig auslassen; ich glaube, dass es
ihm peinlich oder unangenehm war, darüber zu reden. Auf jeden Fall war er in irgend
so einer komischen Spezialeinheit, das hat er mir immerhin mal erzählt. Aber mehr
wollte er nicht rauslassen.«

10
     
    Agata Roggisch sah auf die Uhr an der Wand gegenüber. Viertel nach
fünf. Noch eine gute Stunde, dann hatte sie ihren Nachtdienst auf der chirurgischen
Station des Klinikums Kassel hinter sich. Sie dachte an Victor, den jüngeren ihrer
beiden Söhne, der mit einer schweren Bronchitis zu Hause im Bett lag. Die letzten
Tage waren die reinste Hölle gewesen für die 37-jährige, in Danzig geborene Frau.
Der Kleinere ihrer beiden Jungs mit Fieber im Bett, der große wegen Liebeskummer
völlig von der Rolle und nicht wiederzuerkennen. Zweimal hatte sie ihn, Vaclav,
vor dem Haus des Mädchens, das ihn zum Teufel gejagt hatte, wegholen müssen, weil
deren Eltern bei ihr angerufen und sich beschwert hatten. Seit sie als alleinerziehende
Mutter für die Jungs da sein musste, weil ihr Mann sie nach quälenden Monaten des
Hinhaltens wegen einer anderen Frau verlassen hatte, entwickelte sich die Erziehungsaufgabe
mehr und mehr zu einem ausgewachsenen Desaster. Zwei Stunden Schlaf hatte sie gehabt,
seit sie am Morgen zuvor von der Station geschlichen war, und am Tag davor waren
es auch nicht mehr gewesen. Die leicht korpulente Frau hatte einen seifigen Geschmack
im Mund und konnte kaum noch die Augen offen halten, obwohl sie ihr in den vergangenen
Stunden mehrfach für ein paar Minuten zugefallen waren. Die kurze Zeit bis zum Feierabend
würde sie schon noch durchhalten, so wie sie es immer getan hatte.
    Wieder blieb ihr Blick an der großen Wanduhr über der Tür des Schwesternzimmers
hängen. Nun muss ich mich sputen, dachte sie, sonst schaffe ich es nicht mehr, alle
Patienten zu waschen.
    Kurze Zeit später betrat sie Zimmer 213, in dem Gerold Schmitt als
Einziger untergebracht war, schaltete das Licht ein, und schickte ein freundliches
»Guten Morgen« hinüber zum Bett. Schmitt schien tief und fest zu schlafen; kein
Wunder, fiel ihr dazu ein, nach der Dosis Schmerzmittel, die er von der Kollegin
der Spätschicht verabreicht bekommen hatte. Natürlich war es auch ihr nicht entgangen,
was man sich über den Mann auf der Station erzählte, doch das war ihr relativ egal.
Sie versuchte, jeden Patienten so freundlich wie irgend möglich zu behandeln, was
sich meistens am Ende durch ein kleines Trinkgeld auszahlte. Mit schnellen Schritten
hatte sie die wenigen Meter zur Toilette, in der sich auch das Waschbecken befand,
hinter sich gebracht, griff nach der glänzenden Edelstahlschüssel neben dem Handtuchhalter,
ließ warmes Wasser einlaufen, und fügte einen Schuss Flüssigseife hinzu. Dann drehte
sie den Hahn ab, warf einen Waschlappen in die Flüssigkeit, und ging mit der Schüssel
vor dem Bauch Richtung Bett.
    »Aufwachen, Herr Schmitt«, rief sie ihm bestimmt zu und stellte das
Metallgefäß auf seinem Nachttisch ab, wobei ein paar Spritzer auf der Resopaloberfläche
verteilt wurden.
    »Aufwachen«, wiederholte sie, nun noch etwas energischer, und gab ihm
einen Stups mit der rechten Hand, bei dem sein Körper sich kaum bewegte.
    Erst jetzt warf sie einen längeren Blick auf den Mann im Bett, der
mit nach rechts, zur Wand, geneigtem Kopf dalag. Irgendetwas stimmt hier nicht,
fiel ihr auf, doch noch konnte sie sich keinen Reim darauf machen. Dann jedoch nahm
sie Gerold Schmitts linke Hand, die neben der Bettdecke lag, hoch, und ließ sie
im gleichen Augenblick wieder fallen. Oder besser, sie schleuderte sie zurück aufs
Bett.
    Todesfälle waren auf der Station, auf der Agata Roggisch seit etwa
vier Jahren Dienst tat, eher eine Seltenheit. Und noch seltener hatte sie als Nachtschwester
bisher damit zu tun gehabt. Eigentlich, um genau zu sein, war während ihrer Nachtdienste
bisher nicht ein einziger Patient gestorben. Bei einem war es einmal sehr knapp
gewesen, doch die Ärzte hatten ihn in letzter Sekunde retten können. Und nun das.
Sie schluckte, griff noch einmal vorsichtig nach der Hand, fuhr mit ihrem Handrücken
über den Handrücken des Mannes auf dem Bett, und zuckte erneut zurück. Die Hand
war eiskalt, ebenso wie die Wange, bei der sie es als Nächstes probierte. Mist,
dachte sie, verdammter Mist. Das gibt Ärger.
    Die Befürchtungen der Nachtschwester waren durchaus berechtigt, denn
sie war ihren Pflichten in den vergangenen acht Stunden nicht in dem Maße

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