Rechtsdruck
zu seinen derzeitigen Lebensumständen passen wollte. Er fühlte sich, als könne
er Bäume ausreißen, und er war sich sicher, dass er schon bald wieder die Gelegenheit
dazu bekommen sollte. Er würde die Möglichkeit zu einem Comeback erhalten, das stand
für ihn außer Frage. Er hatte etwas, das seit dem überraschenden Abgang des Ministerpräsidenten
etwa ein halbes Jahr zuvor der gesamten politischen Führungselite abging, nämlich
Charisma und rhetorisches Geschick. Auch konnte er polarisieren, was nach seiner
Meinung ein Geschenk Gottes war. Er war davon überzeugt, dass die Wiesbadener Regierungskoalition
in den kommenden Monaten auseinanderbrechen würde, und er war weiterhin davon überzeugt,
dass es für den politischen Erfolg eines Menschen wie ihn darauf ankam, die Wähler
am rechten Rand anzusprechen. Es war entscheidend, diejenigen Menschen zu mobilisieren,
die sich bisher nicht zu Wort gemeldet hatten, die sich wie er nach Recht, Gerechtigkeit
und Ordnung sehnten. Es gab keinen Politiker im ganzen Land, der sich so gut mit
dem Wunsch dieser Menschen identifizieren konnte, wie ihn, Justus Gebauer.
14
Hain hob den Kopf und sah Melek Bilgin, die jüngste Tochter des ermordeten
türkischen Ehepaares, mit großen Augen an. »Wann genau hat Ihr Bruder Sie angerufen?«,
wollte er wissen.
»Vor einer halben Stunde.«
»Und wo war er zu dieser Zeit?«
Die junge Frau hob den Kopf und warf ihrer Schwester einen fragenden
Blick zu.
»Ich habe mit Ihnen gesprochen, Frau Bilgin«, raunzte Hain sie an.
»Und ich habe mit meiner Frage garantiert nicht verbunden, dass Sie sich bei Ihrer
Schwester rückversichern, was Sie antworten dürfen.«
Auch wenn der Einwand des Polizisten energisch und rhetorisch gut vorgetragen
war, mit einer wahrheitsgemäßen Antwort rechnete er nun nicht mehr.
»Das wollte er mir nicht sagen«, wurde Hains Gedanke von ihr bestätigt.
»Sie tun Ihrem Bruder keinen Gefallen, wenn Sie ihm ermöglichen, sich
vor uns zu verstecken«, erklärte er den Frauen.
»Aber ich sage Ihnen noch einmal, dass Kemal nichts mit der Sache zu
tun hat«, schleuderte Sükren Bilgin dem Oberkommissar als Antwort entgegen.
»Psst, Baby«, mischte sich Ramona Berner ein. »Lass dich nicht provozieren.«
Lenz wollte noch eine Frage zu dem Vater der beiden nachschieben, wurde
jedoch vom Klingeln seines Telefons unterbrochen. Er stand auf, ging hinaus auf
den Flur, und nahm das Gespräch an.
»Ich bin’s, Ludger«, hörte er die Stimme seines Vorgesetzten, des Kriminalrats
Ludger Brandt.
»Morgen, Ludger. Was gibt’s?«
»Ich bin hier am Tatort in der Holländischen Straße und frage mich,
ob wir den Staatsschutz einschalten sollten.«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, antwortete der Hauptkommissar
müde und unterdrückte dabei ein Gähnen. »Aber wie es aussieht, ist es eine Tat im
familiären Umfeld. Es gab gestern Abend einen heftigen Streit zwischen dem ermordeten
Ehepaar und seinem ältesten Sohn, der sich zu allem Überfluss vorhin auch noch seiner
Befragung entzogen hat.«
»Dann ist das der, nach dem ihr die Fahndung eingeleitet habt? Dieser
…« Brandt kramte offensichtlich nach einem Zettel. »Kemal Bilgin?«
»Genau der ist es, und er steht unter dringendem Tatverdacht.«
»Also meinst du, wir brauchen keinen Staatsschutz?«
Lenz überlegte einen Moment, bevor er seinem Chef antwortete. »Mach
es, wenn du dich damit besser fühlst; aber meinetwegen ist es bei der derzeitigen
Faktenlage nicht notwendig.«
»Nein, dann lassen wir es. Ist ohnehin besser, wenn es ohne geht, auch
wegen der Medienwirkung.«
Ludger Brandt spielte auf die Tatsache an, dass Delikte mit Opfern
aus dem Migrantenmilieu gerne medial ausgeschlachtet wurden, speziell dann, wenn
der Staatsschutz sich mit der Sache beschäftigte.
»Gut, so machen wir es. Thilo und ich sind noch bei der ältesten Schwester
des Verdächtigen, aber viel gibt es hier nicht zu holen.« Er sah auf seine Armbanduhr.
»Wir sehen uns später im Präsidium, ja?«
»Ja, klar.«
Es entstand eine kurze Pause.
»Und, Paul …«
»Ja, Ludger?«
»Seid möglichst sensibel und denkt daran, keinen großen Aufstand zu
machen, wenn ihr den Jungen habt.«
»Was meinst du damit?«
Wieder eine Pause.
»Na ja, du weißt doch, wie die türkische Community so tickt. Nehmt
den Kerl fest, aber tut ihm nichts dabei. So oder so ähnlich wäre schön.«
»Wir werden uns anstrengen, Ludger«, gab Lenz ein klein wenig genervt
zurück und
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