Rechtsdruck
Selbstvertrauen ganz von allein. Während der Zeit,
in der er in der Kreisstadt aufs Gymnasium ging, begann er, sich politisch zu engagieren,
und natürlich gab es nur diese eine Partei, die später auch seine politische Heimat
werden sollte, bei der er sich zu einhundert Prozent gut aufgehoben fühlte. Noch
vor dem Abitur, das er mit einem herausragenden Notendurchschnitt erledigt hatte,
war für ihn klar, dass er in Marburg Rechtswissenschaften studieren würde, was nach
dem Erhalt eines Stipendiums einer parteinahen Stiftung auch finanziell machbar
war. Nur seinem sehnlichen Wunsch, zunächst den Grundwehrdienst abzuleisten, kam
ein Militärarzt dazwischen, der ihn wegen eines Asthmaleidens ausmusterte.
Er sah aus dem Fenster und nippte dabei am Espresso. Draußen fielen
vereinzelte Schneeflocken vom Himmel. So isoliert und von anderen abgetrennt hatte
er sich auch zu manchen Zeiten seines Studiums gefühlt. Zwar war es ihm gelungen,
schon nach relativ kurzer Zeit ein Zimmer im Wohnheim einer studentischen Verbindung
zu ergattern, und er hatte dort natürlich Kontakte knüpfen können, die ihm auch
im späteren Leben noch vieles erleichterten, doch intellektuell hatten ihn die vielen
Saufgelage und der elitäre Habitus dieser ältesten Marburger Burschenschaft eher
gelangweilt. Natürlich waren die Auswirkungen der 68er-Bewegung auch an der kleinen
oberhessischen Universitätsstadt nicht spurlos vorbeigegangen. Überall saßen und
lagen Langhaarige in den Parks, kifften und gammelten herum anstatt, wie Justus
Gebauer, möglichst schnell ihr Studium zu beenden. Lange hatte es außerdem so ausgesehen,
als würde er Marburg als männliche Jungfrau verlassen müssen, doch dann hatte er
im letzten Semester Erika kennengelernt, eine unscheinbare, blasse Bibliothekarin,
mit der er zwei Jahre später vor dem Traualtar gelandet war und die ihm zwei Kinder
geboren hatte. Leider Mädchen, wie er einmal in einer stillen Stunde einem Kollegen
gegenüber bemerkt hatte.
Nach dem ersten und zweiten Staatsexamen wurde er zunächst zum Richter
auf Probe und drei Jahre später zum Richter am Amtsgericht Kassel ernannt. Neben
seinem beruflichen Fortkommen betrieb er immer konsequent und mit großem Nachdruck
seine Parteikarriere, die ihn 1999 als Nachrücker in den Hessischen Landtag führte,
dem er bis zu seinem überraschenden, selbst verschuldeten Ausscheiden im Februar
2009 ohne Unterbrechung angehörte.
Noch einmal nippte er an dem inzwischen lauwarm gewordenen italienischen
Kaffee und stellte die kleine Tasse danach bedächtig zurück. Wieder sah er dabei
aus dem Fenster, und wieder kamen vor seinem geistigen Auge die Ereignisse von damals
hoch, die sich vor ein paar Wochen zum zweiten Mal gejährt hatten. Und noch immer
konnte er nicht verstehen, was in dieser Sekunde in ihn gefahren war, was ihn dazu
veranlasst hatte, diesem verdammten Krüppel ins Gesicht zu schlagen. Er konnte und
wollte nicht begreifen, dass die Partei, seine Partei, ihm seitdem nicht einmal
den Hauch einer Chance gegeben hatte, ins Rampenlicht zurückzukehren. Und doch huschte
in diesem Augenblick ein Lächeln über das Gesicht des Mannes, der in den vergangenen
24 Monaten sichtbar ergraut war. Dessen Frau sich schon kurz nach dieser Dummheit,
wie sie es zuvor noch nannte, von ihm abgewendet hatte und ausgezogen war. Wobei
die Ehe der beiden, das war ihm längst klar geworden, seit langer Zeit in Trümmern
gelegen hatte. Mit den Jahren hatten er und Erika sich einfach auseinandergelebt.
Er verbrachte die meiste Zeit der Woche in Wiesbaden, und nachdem die Mädchen aus
dem Haus waren, saß sie mehr und mehr einsam und unglücklich in dem riesigen goldenen
Käfig am Kasseler Fasanenhof herum. Natürlich trug, nach seiner Meinung, auch diese
dämliche Psychotherapeutin ihren Teil dazu bei, mit der Erika sich seit ein paar
Jahren einmal in der Woche austauschte. Diese dumme Pute hatte ihr immer wieder
Flausen in den Kopf gesetzt und auf eine späte Emanzipierung gedrängt; zumindest
hatte er es so verstanden. Aber was machte das schon, er war, was das Liebesleben
anlangte, nicht in schwerer Not. Wenigstens dort nicht.
Sein politisches Lebenswerk allerdings lag in Trümmern, seine Karriere
war ebenso abrupt wie vollständig zum Stillstand gekommen, seine Ehe war gescheitert,
und seine beiden Töchter hatten sich auch schon ein paar Monate nicht mehr bei ihm
gemeldet. Und trotzdem war Justus Gebauer in einer Stimmung, die so ganz und gar
nicht
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