Rechtsdruck
in den Flur, wo sich von unten
Geräusche näherten. Dann tauchte eine pummelige, in einer viel zu engen Jeans steckende
junge Frau mit hochgebundenen Haaren auf, die sich am Treppengeländer hochzog und
dabei nach Luft schnappte. Ihr Gesicht sah verheult aus und war unter beiden Augen
von einem schmalen, schwarzen Streifen durchzogen. Als sie auf dem obersten Treppenabsatz
angekommen war, hielt sie kurz inne und schnaufte durch. Dann setzte sie sich wieder
in Bewegung, doch schon im nächsten Augenblick blieb sie erneut stehen und starrte
Thilo Hain an, der sich neben Ramona Berner in der Tür aufgebaut hatte.
»Wer ist das denn?«, rief sie mit hoher Stimme.
»Das ist ein B…, ein Polizist«, antwortete die Freundin ihrer Schwester.
Die Antwort trieb der jungen Frau sofort eine größere Ladung Tränen
in die Augen.
»Mama ist tot«, schrie sie. »Und Emre auch. Und Papa.«
»Das wissen wir«, zischte Frau Berner. »Und du chill mal ein bisschen
und brüll hier nicht so rum.«
Damit griff sie der Besucherin unter den Arm, zog sie in den Flur und
wollte die Tür hinter sich ins Schloss werfen, doch Hain brachte gerade noch rechtzeitig
einen Fuß in den Spalt, um nicht ausgesperrt zu werden.
»Sükren ist im Wohnzimmer.«
Die jüngste Tochter von Demet und Gökhan Bilgin stürmte in den Raum
und warf sich in die Arme ihrer Schwester.
»Sie sind tot, sie sind alle tot«, schrie sie.
»Ich weiß«, antwortete Sükren Bilgin, legte ihr sanft eine Hand auf
den Rücken und streichelte ihr Genick.
Lenz betrachtete die Szene mit einer gehörigen Portion Beklemmung.
»Woher weißt du es denn?«, wollte Sükren dann leise von Melek wissen.
»Kemal hat mich vorhin angerufen.«
12
Dr. Walther Geyer stand schwitzend am offenen Fenster, zog gierig an
der Zigarette in seiner linken Hand, und wartete auf das Eintreffen seines Bosses.
Er rauchte, obwohl er genau wusste, dass Prof. Dr. Hartenstein, der Chefarzt des
Klinikums, das nicht ausstehen konnte. Er wusste ebenso genau, dass seine Tage gezählt
und seine Ambitionen auf den Chefposten sich in Luft auflösen würden, wenn etwas
von diesem Vorfall aus der vergangenen Nacht an die Öffentlichkeit dringen würde.
Hartenstein war ein fairer, aber kompromissloser Halbgott in Weiß der alten Schule,
der alles tat, damit Dinge, die nach seiner Meinung nicht an die große Glocke gehörten,
dort auch nicht hingelangten. Dazu zählte er, neben vielem anderen, auf jeden Fall
Versäumnisse, Fehler und Irrtümer, die seinen Ruf als angesehenen Mediziner untergraben
oder schädigen könnten. Und das, was in der vergangenen Nacht auf der chirurgischen
Station passiert war, war ganz sicher ein Versäumnis in diesem Sinn gewesen. Geyer
war lange genug im Geschäft, um sich nicht auf die berühmte Delegationsverantwortung
und die sich daraus ergebende Durchführungsverantwortung herausreden zu können oder
zu wollen. Diese dämliche Nachtschwester hatte es verpennt, nach dem Patienten zu
sehen, wie es ihre verdammte Pflicht gewesen wäre, daran gab es nichts zu deuteln.
Als Nächster in der Kette war Witzel, der Assi, dran, doch auch dem konnte er nicht
die komplette Schuld in die Schuhe schieben, leider. Geyer wusste, dass Hartenstein
von ihm erwarten würde, diese Sache so diskret und leise aus der Welt zu schaffen
wie nur möglich, und bis zu diesem Moment an diesem unsäglichen Morgen hatte er
auch alles getan, um seinen Chef zufriedenzustellen. Er hatte die notwendigen Papiere
gefälscht und mit zwei anderen Ärzten Vereinbarungen getroffen, wobei der eine der
beiden ihm ohnehin einen Gefallen schuldete; er hatte den Totenschein ausgestellt
und darauf bescheinigt, dass Gerold Schmitt an einer Embolie in Folge seiner Verletzungen
nach dem Überfall sowie der daraus folgenden, dringend notwendigen Operation gestorben
war. Unglücklich, aber nicht ungewöhnlich.
Die Tür wurde aufgerissen, und Prof. Dr. Wolfgang Hartenstein stürmte
ins Zimmer.
»Na, Herr Kollege, so früh schon am Fenster?«, konstatierte er gut
gelaunt, doch sein Tonfall aktivierte bei Geyer sämtliche Alarmsysteme. »Ich dachte,
Sie hätten sich das Rauchen endgültig abgewöhnt?«
»Ja, na ja, das dachte ich auch. Aber leider …«
»Machen Sie mal besser das Fenster zu, sonst frieren wir uns für den
weiteren Verlauf des Morgens noch den Zapfen ab«, wies der Chefarzt den Oberarzt
an.
Geyer gehorchte willig und trat dann in die Mitte des Raumes. »Wir
hatten letzte Nacht leider einen
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