Rechtsdruck
Exitus.«
Hartenstein sah ihn erstaunt an. »Ja, und? Wer ist es denn?«
»Der Neonazi.«
»So?«, stellte der Professor sich dumm, obwohl Geyer ganz sicher war,
dass sein Boss längst durch den Flurfunk von Schmitts Tod informiert worden war.
»Vielleicht gibt es ja doch einen Gott, der für Gerechtigkeit sorgt«,
fuhr Hartenstein heiter fort. »Obwohl …«
Geyer trippelte nervös von einem Bein auf das andere, während er seinen
Chef dabei beobachtete, wie der einen frischen, blütenweißen Kittel aus dem Schrank
zog.
»Und, Geyer, wollen Sie mir was dazu sagen? Muss ich noch etwas wissen?«
Der Oberarzt schluckte. »Nein, Chef, mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Gut, dann sollten wir es auch dabei …«
Hartenstein wurde von seinem Pieper unterbrochen, griff zum Telefon,
wählte, hörte kurz zu, und warf dann den Hörer wieder auf die Gabel.
»Wir haben ein Polytrauma im Anmarsch. Verkehrsunfall. Irgendwo am
Rasthof muss es brutal geknallt haben.«
13
Justus Gebauer nahm die Espressotasse unter dem Auslauf der Kaffeemaschine
hervor und stellte sie neben die anderen Frühstückszutaten auf das Tablett. Dann
steuerte er den großen Buchentisch an, drapierte die Utensilien in der für ihn typischen
Manier, und setzte sich.
Ordnung. Ordnung war für den in einer kleinen Zonenrandgemeinde geborenen
und aus ärmlichen Verhältnissen stammenden, von seiner Frau getrennt lebenden Vater
zweier erwachsener Kinder immer der Stützpfeiler in seinem Leben gewesen. Mit Ordnung
verband er Vertrauen, Halt und Sicherheit. Ordnung brachte Struktur in sein Leben,
das unter keinem schlechteren Stern hätte beginnen können.
Gezeugt von einer Fleischereifachverkäuferin und einem Karusselbremser
während einer lauschigen Juninacht hinter einem Jahrmarktstand, wuchs er in der
Hauptsache bei den Großeltern auf. Der Vater hatte Reißaus genommen, nachdem die
Mutter ihn einige Wochen nach dem verhängnisvollen Tête-à-tête aufgesucht und von
dem freudigen Ereignis unterrichtet hatte, sie selbst war bei der Geburt des schmächtigen
Babys eher noch ein Kind gewesen, woran sich auch in der Folgezeit wenig ändern
sollte. An die ersten Jahre der Schulzeit erinnerte Gebauer sich regelmäßig mit
Grauen, denn als Kind, das ohne Vater aufwuchs, war er sowohl für die Klassenkameraden
wie auch die Lehrer als Fußabtreter prädestiniert. Wann immer es eine Ohrfeige zu
verteilen gab, Justus Gebauer war als Empfänger nicht weit entfernt.
In dieser Zeit lernte er, dass Regeln und das Befolgen derselben einen
wichtigen Teil des Zusammenlebens darstellten. Sein Großvater, ein im Zweiten Weltkrieg
schwer verwundeter, aber trotzdem Zeit seines Lebens strammer Rechtsnationaler,
gab ihm als eine der Grundweisheiten mit, dass man es im Leben zu etwas bringen
konnte, wenn man nur an sich glaubte. Außerdem natürlich, wenn man sich den Regeln
von Zucht und Ordnung zu unterwerfen bereit war.
Justus Gebauer, dessen Vorname seine Großmutter, eine strenggläubige
Katholikin, in Anlehnung an den Märtyrer Justus durchgesetzt hatte, den sie nach
einer Erwähnung in einer Predigt des Dorfpfarrers verehrte, wäre nach der Betrachtung
seines Starts ins Leben eine eher düstere Prognose zuteil geworden. Doch es gab
eine Eigenschaft im Charakter des Heranwachsenden, die alles andere in den Schatten
stellte und ihm half, sich über die meisten Hindernisse in seinem jungen Leben hinwegzusetzen:
Ehrgeiz.
Schon früh hatte er erkannt, dass Wissen über die vielen Defizite hinweghalf,
die er mit sich herumtragen musste. Und so las er, was immer ihm in die Finger kam.
Selbst die Jerry-Cotton-Groschenhefte, die er nachts heimlich unter der Bettdecke
lesen musste, halfen ihm weiter, und wenn es auch nur darum ging, sich die einzelnen
Stadtteile von New York einzuprägen, oder die wichtigsten Straßennamen der Metropole
herunterbeten zu können.
In seiner Jugend war Justus Gebauer das, was man viele Jahre später
einmal als ›Nerd‹ bezeichnen würde. Ein Junge, den die anderen Jugendlichen mieden,
und der die anderen Jugendlichen ebenso mied. Ein Junge, der viel las und nach und
nach lernte, das Wissen, das er sich angeeignet hatte, auch umsetzen zu können.
Er war nicht groß, er war nicht stark, und alles andere als attraktiv, aber er wusste
viel. Zunächst sollte ihm dieses Wissen nichts bringen, aber nachdem er als Einziger
seiner Klasse den Sprung aufs Gymnasium geschafft hatte und auch dort mit guten
Leistungen glänzte, wuchs sein
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