Rechtsdruck
nicht
im Schneetreiben stehen zu müssen. Lenz klappte den Kragen seiner Jacke hoch und
trabte langsam weiter in Richtung des kleinen Japaners, als hinter ihm ein lauter
Jubelschrei ertönte. Durch einen kurzen Blick über die Schulter nahm er wahr, dass
sein Kollege mit weit aufgerissenen Augen, feistem Grinsen und dem Telefon etwa
einen Meter vom Ohr entfernt dastand. Dann führte Hain das kleine Gerät wieder an
seinen Kopf, sprach ein paar Sätze, beendete die Verbindung und lief schlitternd
und mit weit ausgebreiteten Armen auf seinen Chef zu.
»Ich hab es endlich hingebracht«, brüllte er im Weiß der umherfliegenden
Schneeflocken über das weitläufige Krankenhausgelände. »Ich hab es geschafft!«
Lenz, dem schon beim Beobachten des Anrufes klar gewesen war, worum
es ging, breitete ebenfalls die Arme aus und bereitete sich auf den Einschlag seines
jungen Kollegen vor, doch dessen knapp 80 Kilo Lebendgewicht schoben ihn auf dem
spiegelglatten Boden zunächst einen halben Meter nach hinten, wo ihre Masse abrupt
vom Bordstein gebremst wurde. Den Rest übernahm die Physik, die dafür sorgte, dass
die beiden Polizisten wie Sandsäcke im weichen Schnee der hinter dem Bordstein beginnenden
Wiese landeten. Lenz unten, Hain oben, lagen die beiden da wie Robben auf der Sandbank.
»Ich werde Vater!«, jodelte der junge Oberkommissar glücklich und küsste
dabei die Stirn seines Chefs.
»Und ich werde nie mehr aufstehen«, ächzte Lenz nach Luft japsend,
»wenn ich nicht auf der Stelle was zu Atmen kriege«, womit er unter dem wie Blei
auf ihm ruhenden Körper hervorkrabbelte.
»W i r k r i e g e n e i n B a b y!«, schrie Hain erneut auf und wollte
noch einmal nach Lenz greifen, doch der war schon wieder auf den Beinen.
»Ich hoffe sehr, dass Carla und du das Baby kriegt, und nicht wir beide«,
keuchte er. »Und jetzt komm hoch, du Irrer, was sollen denn die Leute denken.«
*
Hain hatte sich auch eine Viertelstunde und zwei doppelte Espressi
in einem Café gegenüber des Klinikums später noch nicht so weit unter Kontrolle,
dass es Lenz sinnvoll erschienen wäre, den werdenden Vater ans Steuer seines Kraftfahrzeuges
zu lassen. Deshalb saß der Hauptkommissar auf der für ihn ungewohnten linken Seite,
hinter dem Steuer des Cabrios.
»Gute Winterreifen hast du drauf, oder?«
»Vor drei Monaten neu gekauft«, erwiderte sein Kollege mit verklärtem
Gesicht. »Ich hab wirklich nicht mehr damit gerechnet«, fuhr er fort, »dass daraus
noch mal was werden würde. Seit wie vielen Monaten sind wir schon dabei? Oder sind
es schon Jahre? Keine Ahnung.«
Lenz fädelte sich in den beginnenden Feierabendverkehr ein und dachte
kurz über eine Antwort auf die Frage nach, die Hain soeben aufgeworfen hatte.
»Bisschen mehr als sechs Monate, keine Woche mehr«, erklärte er wissend.
Sein Kollege warf ihm einen erstaunten Blick zu, ohne dabei sein debiles
Grinsgesicht wirklich abzusetzen. »Woher willst du denn so genau wissen, wie lange
Carla und ich schon …?« Den Rest der Frage schluckte er hinunter.
»Ich weiß es deshalb so genau, weil du mich vom ersten Moment an zum
Mitwisser gemacht hast. Damals hast du die Riesenbeule am Kopf gehabt, nachdem dir
der eine von diesen komischen Zwillingen im Klo einer Kneipe in Rothenditmold was
über die Rübe gezogen hatte. Erinnerst du dich?«
Die Situation, die der Hauptkommissar beschrieb, hatte im Sommer zuvor
stattgefunden. Damals hatten die beiden Polizisten den oder die Mörder von zwei
ehemaligen Erziehern eines Jugendheimes in der Region gesucht.
»Stimmt!«, gab Hain ihm uneingeschränkt recht. »Mann, bin ich froh,
dass es damals nicht geklappt hat, sonst wäre mein Kind bestimmt ein Egghead geworden.
Bei der Beule …«
Lenz nahm Kurs auf die Innenstadt. Kurz vor der Kreuzung am Stern klingelte
Hains Telefon erneut. Der Oberkommissar griff mit fliegenden Fingern in seine Jackentasche,
schluckte, zog nervös die Nase hoch, und warf seinem Boss einen besorgten Blick
zu.
»Wird doch nichts passiert sein?« Er drückte die grüne Taste, meldete
sich und lauschte, ohne ein weiteres Wort zu sprechen. Wenige Sekunden später hatte
der Anrufer aufgelegt und Hain steckte das Gerät zurück.
»Bevor du mir jetzt irgendwas zu dem Anruf sagst, Thilo«, unterbrach
Lenz die gerade beginnenden Ausführungen seines Kollegen, »will ich eins klarstellen:
Es wird nicht so sein, dass du jetzt sechs oder sieben Monate lang bei jedem Anruf
kreidebleich wirst und ein Horrormovie
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