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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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entsetzlichen Bereitwilligkeit und Erfindsamkeit in Vorwänden zu schmerzhaften Affekten […]. ( GM 3-15)
    Iwan nimmt mit seiner eigenen kranken, verdrehten Seele den Bedarf nach einer Richtungsänderung und Umdeutung der Emotionen auf sich, den andere in seiner Umgebung haben. Aber Negativität brütet nur mehr Negativität aus. Iwans Herde wird wie die des Großinquisitors in die Irre geführt. Aljoscha, Katerina, Lise und Smerdjakow leiden spürbar unter der Schuld, die ihnen Iwan in seiner Rolle als neuer Inquisitor/Priester auferlegt. Ihre Emotionen werden bis zur Weißglut aufgeheizt, doch als Erleichterung bietet sich ihnen nur reaktive Gewalt an.
    Camus benutzt Iwans philosophische Argumente, um aus ihm einen Rebellen zu machen. [3] Doch Nietzsche, der Iwans Charakter insgesamt betrachtet, wäre womöglich mit uns einverstanden, ihn Priester zu nennen. Rebellion verlangt nicht nur Worte, sondern Taten; Priestertum dagegen lebt wie die Übertreibung der Legalität vom geschickten Einsatz eines lediglich reaktiven Formalismus. Zur Rebellion gehört nach dem ersten Nein eine konkrete Handlung; doch das Priestertum ist bestrebt, die ursprüngliche Verneinung zu bewahren, zu verbreiten und in anderen zu wecken. Für Iwan hatsich Leben auf Reaktion reduziert. Die Pläne des Großinquisitors sind negative Reaktionen auf das von Christus gelebte Beispiel von Freiheit und Spontaneität, und in gleicher Weise träufelt Iwan allen, denen er begegnet, seine Verbitterung ein, die in erster Linie von seinem Vater ausgelöst wurde. Denn Iwan denkt sich weit mehr als die Geschichte des Großinquisitors aus. Während er selbst zum Handeln unfähig ist, gelingt es ihm, eine gewaltsame, reaktive Idee in die allzu empfängliche Gedankenwelt mindestens eines Mitglieds seines Publikums einzupflanzen. Der Diener und als Bastard geborene Halbbruder übernimmt die Ressentiments seines »Priesters« und setzt narrative Strukturen in Gewalt um. Und für diese Gewalt wird ein unschuldiger Außenseiter verurteilt.
    Die »Duplizität« von Iwan und Smerdjakow in ihrem faktischen Komplott zur Tötung ihres Vaters findet ihre Parallele in Dostojewskis tiefsten Ängsten über das Auseinanderklaffen von christlichem Schein und christlichem Anspruch. Iwans edle Verkündigungen führen wie die vorgeblich von ihm abgelehnten christlichen nicht zum greifbaren, irdischen Guten. Die zentrale Idee erreicht die Herde nur als Fragment. Smerdjakow, den mit Iwan von Kindheit an der Hass gegen Fjodor und eine perverse Frühreife verbindet (wenn er Katzen aufhängt, stellt dies das aktive Äquivalent von Iwans Intelligenz dar, die als »düster und verschlossen« [S. 28] beschrieben wird), kann nur die gehässigen Aspekte der Verkündigungen seines Bruders aufnehmen. Iwans priesterliches Gebaren und Reden bewegen Smerdjakow zur Gewalttat, während Smerdjakows Fähigkeit zu handeln bei Iwan zunehmend Wut auslöst. Nach vollbrachtem Mord zieht sich Iwan in Selbstkasteiung und Wahnsinn zurück und lässt es in seiner Passivität zu, dass sein unschuldiger älterer Bruder die Schuld bekommt. Trotz seiner Beteuerungen philosophischer Freiheit hat er sein Schicksal mit dem des unterdrückten, gewalttätigen Dieners verknüpft. Iwans Ressentiment bringt das alptraumhafte dostojewskische Kellerloch an seine Grenzen. Alle positiven Werte wurden untergraben.
    So können wir »Der Großinquisitor« im richtigen Kontext sehen. Der Nazarener stellt für den autoritären Formalismus des Inquisitors einen Affront dar. Mitja ist der gegen ihn erhobenen Anklage in gleicher Weise nicht schuldig, wie er eine Bedrohung des ressentierenden Ordnungssinns des Staatsanwalts darstellt, und wird zu Unrecht verurteilt. Die christliche Epistemologie Dostojewskis, umgesetzt in der narrativen Struktur des Romans, erzeugt so eine zutiefst antichristliche Aussage. Christus hat unabsichtlich eine Institution gegründet, deren negatives Ordnungsverständnis dazu führt, dass sogar er aus ihr ausgestoßen wird. Diese Negation, die in der Herde sorgfältig gepflegt wird, wird dann zur Gewalt gegen Außenseiter, denen dafür letztlich noch die Schuld zugeschrieben wird.
    Schönheit und Spontaneität der neuen Religion sind 1900-jähriger Geschichte narrativer Autorität und greifbarer weltlicher Ungerechtigkeit gewichen. Ja, noch vernichtender, sie haben zu einer mit reaktiver Schuld so sehr getränkten Kultur geführt, dass sogar ihre intellektuellen »Rebellen« an der Umsetzung ihrer

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