Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
den grandiosen Leistungen des Formulierungskünstlers zum Opfer fallen. Denn das Wesen der Wirklichkeit, das sich nur in dem tief sitzenden Drang des Redners zur Offenlegung seiner Verfahren zeigt, doch nie in der ostentativen Bedeutung seiner wichtigsten Aussagen, lässt sich nur durch Aufmerksamkeit für die Details und die Struktur des ganzen narrativen Texts wahrnehmen.
Für Die Brüder Karamasow stellt das Ermittlungsverfahren eine subtile, zweiteilige Struktur zur Verfügung. Die Absicht des Autorsbleibt verborgen, bis die beiden Teile verknüpft werden. Obwohl die weltliche Form der Inquisition, das Ermittlungsverfahren, fast zehnmal mehr narrativen Raum beansprucht und obwohl ihre beiden kompletten Abschnitte einen zentraleren Beitrag zum Plot des Romans leisten, löst die andere, metaphysische Version die meisten kritischen Reaktionen auf den Text aus. Und doch scheint es, als wolle der Autor durch die Einbindung beider Niveaus in eine einzige Struktur uns einladen, ihre Komplementarität zu erkennen.
Die kürzere Untersuchung, herausragendes Beispiel der narrativen Fähigkeiten Iwan Karamasows, trägt den Titel einer ihrer Hauptpersonen, »Der Großinquisitor«. [1] Diese Figur, eine Verkörperung des modernen, organisierten Christentums, tritt im Spanien des 16. Jahrhunderts dem zurückgekehrten Gründer der jetzt vorherrschenden Religion entgegen. Der Anblick des Nazareners verwundert und verwirrt den Inquisitor, und er beeilt sich, ihn aus seiner leicht beeindruckbaren Gemeinde zu verbannen. Er hält Jesus für einen nicht willkommenen Eindringling, ein Beispiel für die Art von Freiheit, die seinem eigenen Ordnungssystem ein Gräuel ist; er hat erkannt, dass in der Religion jetzt absolut kein Platz mehr für Spontaneität ist. Allerdings findet kein juristisches Verfahren statt, sondern es kommt nur zu einem langatmigen Redefluss des Inquisitors, Apologie für die Höherbewertung einer von außen auferlegten Ordnung gegenüber individuell gewollten Handlungen. Und diese einseitige Darstellung, die unwidersprochen bleibt, setzt sich durch. Ohne jedes Wort ersetzt der Nazarener in Iwans Erzählung ganze Bände von Reden durch eine einzige Geste: Er küsst seinen Widersacher. Ironischerweise kehrt sich in Iwans Geschichte das Modell von Kränkung und Unterdrückung um, das für die persönliche Konfrontation zweier Figuren in Dostojewskis Werken sonst so charakteristisch ist. Der wortreiche Formulierungskünstler fügt hier die Kränkung zu, und der freie, ungebundene Jesus zieht sich mit einem Liebesbeweis zurück. Die Geste des Nazareners, auch wenn sie auf rein abstrakter Ebene anrührend ist, lässt die besonders aggressive Ungerechtigkeit des Inquisitors ihm gegenüber völlig unbeantwortet, so wie die Passivität seiner Jünger die Vorherrschaft von Ungerechtigkeit während zweitausend Jahren christlicher Kultur oft gestattet und manchmal sogar unterstützt hat. [2]
Aljoscha hört Iwans Geschichte zu und sagt außer einigen liebevollen Bemerkungen relativ wenig. Gegen Iwans scharfe Anklage des Christentums in seiner Erzählung und bei anderen Unterhaltungen mit Aljoscha erhebt sich kein wirklicher Widerspruch. Wie die Lösung des Nazareners bleibt auch die Aljoschas zum Zustand weltlicher Ungerechtigkeit bis zum Ende des Romans in gnädiges Schweigen gehüllt.
Jesus und Aljoscha, die zusammen mit dem heiligengleichen Starez Sossima Dostojewskis kraftvollste Antwort auf die Falschheit narrativer Versklavung darstellen, scheinen gescheitert zu sein. Ihr Auftritt im Gerichtshof der menschlichen Geschichte hat nur gegen ihre Passivität sprechendes Beweismaterial erbracht, genug, um starke Zweifel an ihr zu wecken. Der Christenmensch, eingelullt vom lieblichen theoretischen Singsang über Liebe, Glauben, Hoffnung und Nächstenliebe, hat seine Macht an die abgetreten, die die Welt terrorisieren. In der Gewissheit, letztendlich erlöst zu werden, hat er es zugelassen, dass konkrete, nicht metaphysische Gräueltaten begangen werden; manchmal hat er sogar bereitwillig daran teilgenommen. »Außenseiter«, also diejenigen, die sich weigern, ihr Leben gemäß den aufgezwungenen Strukturen des »allein selig machenden Glaubens« zu organisieren, traf eine mit Enthusiasmus verhängte Strafe.
Iwan Karamasow setzt den Inquisitor ein, um das unvermeidliche Schicksal einer Religion aufzuzeigen, die nicht auf Recht und Ethik beruht, sondern eher auf dem metaphysischsten und persönlichsten Gefilde menschlicher
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