Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Emotionen: Liebe. Aber auch wenn Iwans Erzählung drastisch zeigt, wie schnell Liebe, erhoben zur allgemeingültigen Vorschrift, in kalten Formalismus und Massenhass umschlägt, übernimmt er selbst diese Negativität ohne Einschränkung, sobald er nicht kreativ tätig ist. In gewisser Weise ist Iwan die Reinkarnation des Großinquisitors, dessen mittelalterliches Vokabular er zwar ablehnt, dabei aber den reaktiven, formalen Ansatz gegenüber Personen in seinem Einflussbereich beibehält. »Freiheit«mag in Iwans Credo an die Stelle von »Liebe« getreten sein, doch nur als theoretisches Fundament. Das tatsächliche Ergebnis, verbitterter Formalismus und Grausamkeit, ist dasselbe.
Iwan ist zu intelligent, um diese höchste Ironie in seinem Weltbild zu ignorieren. Wie Dostojewski (und Ippolit, der Jurist) bringt er dies in seinen wichtigsten kunstvollen Porträts zum Ausdruck. Im Großinquisitor, seiner bestechendsten Schöpfung, schildert Iwan sein eigenes Verlangen zu ordnen, was eigentlich frei ist. Wie viele moderne Intellektuelle stellt er eine paradoxe Tendenz zur Konstruktion von Formen in den Dienst eines scheinbar nihilistischen Weltbilds. Aber auf dem Feld menschlicher Interaktion führt Iwans Einstellung wie die des Inquisitors nur dazu, andere einzuengen oder sie zu gewaltsamen Gedanken oder Taten anzuleiten. Er kann in ihnen kein Gefühl für ihr eigenes Freiheitspotenzial wecken.
Die Pläne des Großinquisitors für das Menschheitsglück spiegeln sein überspanntes Selbstverständnis als einer von den wenigen Unglücklichen wider, auf deren Schultern das Schicksal der gesamten Menschheit lastet. Das erinnert uns an Nietzsches brillante Aphorismen über Priester in Zur Genealogie der Moral , und wie weit er insoweit Dostojewski verpflichtet ist:
Der asketische Priester muss uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Heerde gelten: damit erst verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die Herrschaft über Leidende ist sein Reich […]. Er muss selber krank sein […]; aber er muss auch stark sein, mehr Herr noch über sich als über Andere, unversehrt namentlich in seinem Willen zur Macht, damit er das Vertrauen und die Furcht der Kranken hat, damit er ihnen Halt, Widerstand, Stütze, Zwang, Zuchtmeister, Tyrann, Gott sein kann. Er hat sie zu vertheidigen, seine Heerde – gegen wen? Gegen die Gesunden, es ist kein Zweifel, auch gegen den Neid auf die Gesunden; er muss der natürliche Widersacher und Verächter aller rohen, stürmischen, zügellosen, harten, gewaltthätig-raubthierhaften Gesundheit und Mächtigkeit sein. […] [Er] kämpft klug, hart und heimlich mit der Anarchie und der jederzeit beginnenden Selbstauflösung innerhalb der Heerde, in welcher jener gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das Ressentiment, sich beständig häuft und häuft. […] [W]ollte man den Werth der priesterlichen Existenz in die kürzeste Formel fassen, so wäre geradewegs zu sagen: der Priester ist der Richtungs-Veränderer des Ressentiment. Jeder Leidende nämlich sucht instinktiv zu seinem Leid eine Ursache […] irgend etwas Lebendiges, an dem er seine Affekte […] entladen kann: denn dieAffekt-Entladung ist der grösste Erleichterungs- […]Versuch des Leidenden, sein unwillkürlich begehrtes Narcoticum gegen Qual irgend welcher Art. Hierin allein ist, meiner Vermuthung nach, die wirkliche physiologische Ursächlichkeit des Ressentiment, der Rache und ihrer Verwandten, zu finden, in einem Verlangen also nach Betäubung von Schmerz durch Affekt: – man sucht dieselbe gemeinhin, sehr irrthümlich, wie mich dünkt, in dem Defensiv-Gegenschlag, einer blossen Schutzmaassregel der Reaktion, einer »Reflexbewegung« im Falle irgend einer plötzlichen Schädigung und Gefährdung, von der Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um eine ätzende Säure loszuwerden. Aber die Verschiedenheit ist fundamental: im einen Falle will man weiteres Beschädigtwerden hindern, im anderen Falle will man einen quälenden, heimlichen, unerträglich-werdenden Schmerz durch eine heftigere Emotion irgend welcher Art betäuben und für den Augenblick wenigstens aus dem Bewusstsein schaffen, – dazu braucht man einen Affekt, einen möglichst wilden Affekt und, zu dessen Erregung, den ersten besten Vorwand. » Irgend Jemand muss schuld daran sein, dass ich mich schlecht befinde« – diese Art zu schliessen ist allen Krankhaften eigen, und […] [Die] Leidenden sind allesammt von einer
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