Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
dass er immer nur beeindruckbar bleiben und niemals zu einem echten Gefühl fähig sein wird. Es scheint, als werde die zentrale Bedeutung aufrechter Emotionen – in der französischen Literatur noch bis Stendhals Fabrice spürbar – in Flauberts Meisterwerk durch ein abstraktes, fast eindimensionales Mittelmaß ersetzt.
Paradoxerweise bleibt Frédéric fast über die ganze Länge des Romans im Mittelpunkt. Er gibt diese Stellung nur gelegentlich auf, und dann meistens zugunsten seiner engen Vertrauten oder Geliebten. Es ist, als wolle Flaubert sich an seinen Protagonisten klammern, um zeitliche Entwicklungen nicht durch eine übermäßig reiche menschliche Optik zu verkleinern. Man kann dies besser begreifen, wenn man die Wirkung des Romans mit der von Henry James’ Die Gesandten vergleicht. [8] Während Frédérics »Liebe« für Madame Arnoux ihn regelmäßig von bedeutungsvollen Beziehungen (nicht zuletzt auch mit ihr!) ablenkt, die den externen Lauf der Dinge aufhalten könnten, führen die zunehmenden Gefühle für Madame de Vionnet bei Lambert Strether, und durch seine Augen beim Leser, zu einer Bereicherung der subjektiven Höherbewertung all seiner Wahrnehmungen. Beide Figuren gelangen nicht zur Erfüllung ihrer Wünsche, weil sie eine relativ einfache Wirklichkeit gegen etwas Komplizierteres ersetzen, aber bei Strether handelt es sich um eine romantische, sogar poetische Kompliziertheit, während Frédéric sich gestelzt und letztendlich legalistisch verhält.
Die von Flaubert am ausführlichsten gestaltete männliche Hauptfigur ist in der Tat Jurist. Genau wie das Aufeinanderprallen der Zivilisationen in Salammbô sich präzis in den Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren spiegelt, wird hier der Bankrott einer Kultur innerhalb des Berufs des Protagonisten aufgegriffen. [9] Dieser innovative Einsatz der Charakterzeichnung erreichte 87 Jahre später mit Camus’ Jean-Baptiste Clamence seine vollkommenste Form.
Frédéric Moreaus Rolle als eine Art Trampolin, auf dem im konstanten Rhythmus die Ereignisse einer historischen Epoche auf- und abprallen, erscheinen und verschwinden, setzt ein Mindestmaß an Definition voraus. Wir können annehmen, dass der Beruf das wichtigste Attribut dieses aufnahmebereiten, unverwüstlichen Protagonisten ist, da der Text dem Beruf wesentlich mehr Raum gibt als den Einzelheiten der Kindheit oder der Beschreibung seiner physischen Erscheinung. Am Ende dieses Romans kann man nicht sicher sein, wie Frédéric aussieht, nicht einmal, ob er jemals vorRosanette mit einer anderen Frau geschlafen hat. [10] Gleiches Unwissen über seinen gewählten Beruf wird den Lesern unmöglich gemacht. Schon früh im Roman kommt es zu Gesprächen, die zu seiner Entscheidung für das Studium des Rechts führen, die juristische Ausbildung wird ausführlich behandelt, ebenso die Examen und sein Flirt mit der Praxis. Deslauriers, sein bester Freund und die zweitwichtigste Romanfigur, spricht mit Frédéric immer wieder über seine eigene juristische Karriere. Flaubert wollte das Recht zu einem Bestandteil seiner Hauptperson machen, damit der Charakter der Epoche mikroskopisch aus einer vermittelnden Perspektive betrachtet werden konnte.
Es gibt mindestens drei mögliche Gründe für diese punktuelle Klarheit in Frédérics ansonsten amorphem Wesen. Vielleicht musste Flaubert seine eigenen Erlebnisse beim Rechtsstudium aufarbeiten, da er bis dahin in seinen Narrativen nur seine Fantasien entwickelt hatte. Vielleicht hatte er auch das Gefühl, dass ein Jurist wegen seiner vermittelnden Funktion am besten als Vehikel für die Passionen und Gedanken anderer eingesetzt werden konnte. Oder vielleicht sah er den Beruf des Juristen als eng verknüpft mit dem Wesen der französischen Kultur seiner Zeit.
Diese drei Elemente kommen in einer Thematik persönlicher und kultureller Reaktion und Passivität immer wieder auf und schließlich zur Deckung. Studium und Ehrgeiz sind nur ein schöner Anstrich, doch ist Frédéric genauso wenig dafür bestimmt, ein effizienter Jurist zu werden wie ein herrlicher Geschichtenerzähler oder leidenschaftlicher Revolutionär. Frédérics erste Tage an der juristischen Fakultät machen wenig Hoffnung auf seine spätere Karriere (nicht anders als bei Flaubert, der seinen Protagonisten in der Rue Saint-Hyacinthe, heute Rue Paillet, unterbringt, seiner eigenen Behausung während des Jurastudiums):
Mit einem ganz neuen Kollegheft unter dem Arm begab er sich zur Eröffnung
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