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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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der Vorlesungen. Dreihundert junge Leute füllten barhäuptig einen amphitheaterähnlichen Raum, in dem ein Greis in einer roten Robe mit eintöniger Stimme vortrug. Federn kratzten auf Papier. Er fand in diesem Saal den Staubgeruch der Schulzimmer wieder, die gleiche Bank wie dort, dieselbe Langeweile. Vierzehn Tage lang ging er hin. Doch noch vor dem Paragraphen 3 hatte er dem Bürgerlichen Gesetzbuch den Rücken gekehrt, und auch die Institutionen des Römischen Rechts hatte er schon bei der summa divisio personarum aufgegeben. (S. 35)
    Frédéric ist desillusioniert, doch fehlt ihm (wie seinem Schöpfer) die Charakterstärke, seine Studien entweder abzubrechen oder erfolgreich zu Ende zu führen; [11] er lässt eine erniedrigende Serie von Examen über sich ergehen, die Flaubert en connaissance de cause ausführlich beschreibt. Passagen wie diese unterscheiden sich vom übrigen Text. Sie unterbrechen den ungetrübten Fluss der Zeit und zwingen den Leser, sich auf den Protagonisten in seiner Einmaligkeit zu konzentrieren:
    Endlich war der Augenblick gekommen, in dem er auf die Fragen aus der Prozeßordnung zu antworten hatte. Es handelte sich um den Einspruch eines Dritten gegen ein Urteil. Der Professor war beleidigt, weil er Theorien, die mit seinen eigenen im Widerspruch standen, zu hören bekommen hatte, und fragte ihn in grobem Ton:
    »Und Sie, Monsieur, sind Sie auch dieser Meinung? Wie vereinbaren Sie das im § 1351 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ausgesprochene Prinzip mit diesem außergewöhnlichen Einspruchsverfahren?«
    Frédéric hatte heftige Kopfschmerzen, da er die Nacht schlaflos verbracht hatte. Ein Sonnenstrahl drang durch einen Spalt in der Jalousie und trafsein Gesicht. Er stand hinter einem Stuhl, bewegte den Körper von rechts nach links und zupfte an seinem Schnurrbart.
    »Ich warte noch immer auf Ihre Antwort!« begann der Mann mit dem goldgeschmückten Barett wieder.
    Und da ihn Frédérics Bewegung wohl ärgerlich machte, setzte er hinzu:
    »In Ihrem Bart werden Sie sie nicht finden!«
    Diese Bemerkung rief unter den Zuhörern Lachen hervor […]. (S. 87 f.)
    Dank des Rechts kann Flaubert in seinen Roman Autobiografie und gesellschaftliche Satire einflechten. Selber als Jurist gescheitert, schwächt er seinen Helden; vor dem physischen Liebesakt zurückschreckend, legt er Frédéric genauso an; persönlich politischem Handeln abgeneigt, schildert er seinen Protagonisten und dessen Kommilitonen entsprechend. [12] Keiner der Juristen in diesem Text, einschließlich Deslauriers, bringt die sich selbst gesteckten Ziele in politischen oder sentimentalen Angelegenheiten zum guten Ende. [13] Der mittelmäßige Mann der Zeit wird in L’Éducation sentimentale endlich griffig, und er gewinnt seine Form in der Rechtswissenschaft.
    Es soll hier nicht versucht werden, Frédérics Verwendung der Sprache im Einzelnen zu untersuchen; diese Analyse bleibt mit größerem Gewinn seinem Nachfolger und Kollegen Clamence aus Camus’ Der Fall vorbehalten. Es wäre falsch, Frédérics wörtliche oder schriftliche Äußerungen solchen Ausführungen zu unterziehen, da Flaubert seinen Helden nicht mit einer zum Beispiel Schahabarim oder Spendius vergleichbaren verbalen Intelligenz ausstattet. Frédéric ist darauf ausgelegt, Werte zu transportieren, nicht zu schaffen. Doch sei angemerkt, dass er auf politische Ereignisse durchgängig nur verbal reagiert. Ob am Panthéon in seiner frühen Zeit als Rechtsstudent oder bei den Tuilerien 1848 zieht er sich auf die Sprache zurück. Seine journalistische »Arbeit« (S. 401) und seine schließliche Geringschätzung für den »Aufruhr« (S. 443) definieren seine Beteiligung (wie in gewisser Weise die Flauberts). [14] Weniger gebildeten Gestalten wie Dussardier bleibt es überlassen, für ein Ideal zu kämpfen und zu sterben.
    Frédérics sentimentale Welt enthält wie die des Juristen bei Camus fast hundert Jahre später kaum etwas Wesentliches innerhalb, und gar nichts außerhalb der Sprache. Seine éducation sentimentale , seine Erziehung des Herzens ist am Ende noch erfolgloser als sein juristisches Studium; beide werden schließlich gebündelt:
    Er sah sich an einem Winterabend in einem Geschworenengerichtssaal: Die Plädoyers waren zu Ende, es war der Augenblick, da die Geschworenen bleich sind und sich die Schranken des Saales unter dem Andrängen der keuchenden Menge zu biegen beginnen; er sah sich schon seit vier Stunden sprechen, alle seine Beweise zusammenfassen,

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