Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
wirkungsvollen Stil und für seine Macht über den Zuhörer verantwortlich. Während der Erzähler in Der Fremde seine implizite Kontrolle über die Sympathien des Lesers aufgibt, wird Clamence mit Sorgfalt in eigener Sache »einen Schriftsatz einreichen«, wobei er die Mittel seines Berufs einsetzt und an die offensichtliche Kollegialität seines Publikums appelliert. Wenn Clamence zum Beispiel seinem Zuhörer in Bezug auf den Besitzer der Mexico-City-Bar anvertraut, dass »seine Einsilbigkeit geradezu ohrenbetäubend« ist und »an das pralle Schweigen des Urwalds [gemahnt]« (S. 6), oder wenn er »die unverbildete Einfalt seines Wesens« erwähnt, könnte er genauso gut mit einem Anwaltskollegen über Meursaults Verhalten als Angeklagter reden. Interessanterweise gesteht Clamence als erstes Beispiel seines eigenen verlogenen Wesens, dass er mit Respekt der Beerdigung seines Concierge beiwohnte, eines Mannes, den er widerwärtig fand.
Insoweit zwischen Meursault und Clamence absichtlich ein Gegensatz bei ihrer Selbstdarstellung und ihrer allgemeinen Erscheinung hergestellt wird, ergreift der Leser wahrscheinlich eher Partei für den intellektuellen Juristen als für den nonverbalen Genussmenschen. Bei unserer Vertiefung in die schwierige Aufgabe, diese Romane zu entschlüsseln, neigen wir dazu, Clamences konstante, egozentrische und komplexe Untersuchung des Verhältnisses zwischen Sprache und Sinn zu goutieren. Wie die abschließenden Absätze der »Bekenntnisse« [22] bestätigen, bringt das Narrativ die Stärken und Schwächen von Leser und Erzähler in gleicher Weise ans Tageslicht. Flaubert beendet sein Meisterwerk mit Frédéric Moreau und Charles Deslauriers, beide Juristen; diese Dualität wird am Ende von Der Fall wiederholt. Aber jetzt steht der Leser als Spiegelbild des Protagonisten als Jurist da.
In seinem früheren Leben als Pariser Anwalt hatte Clamence vorübergehend seinen inneren Frieden gefunden. Er wurde wegen seiner beruflichen Talente und seiner Forschheit geachtet und hatte das Glück, sich selbst als echten Altruisten zu sehen. Seine menschliche Anteilnahme für die mutmaßlichen Kriminellen, die seinen juristischen Beistand brauchten, erstreckte sich auch auf den Blinden, der die Straße überqueren, oder auf den Autofahrer, dessen Fahrzeug nicht anspringen will. Aber hinter der Nächstenliebe und dem dadurch in Clamence entstehenden Gefühl, »im Einklangmit dem Leben« zu sein, steckte die seinem Beruf eigene Distanziertheit. »Mein Beruf […] benahm mir jede Bitterkeit gegenüber meinem Nächsten, den ich mir immer verpflichtete, ohne ihm je etwas schuldig zu sein« (S. 24). Eine kühle Herablassung gegenüber seinen Mandanten und auch gegenüber den Frauen, mit denen er sich von Zeit zu Zeit amüsiert, war der einzige Grund für sein Interesse an anderen.
Die moralische Selbstzufriedenheit des modernen Menschen hängt an einem seidenen Faden! Schließlich verliert Clamence, dessen Rückzug ins feuchte Amsterdam zu seinem Image als der neue Kellerlochmensch beiträgt, sein Gleichgewicht durch nichts weiter als eine Hand voll negativer Ereignisse. Wie Dostojewskis intellektuelle und juristische Protagonisten schickt sich Clamence wegen eines nicht aufgelösten, aus ein oder zwei Situationen abgeleiteten Gefühls des Gekränktseins ins selbst auferlegte Exil, um sein wahres Talent, stilisierte Geschwätzigkeit, umso besser zu entfalten. Nur wenn es ihm gut geht, bringt Clamence es fertig, uns von seinen Misserfolgen zu erzählen, die er geschickt in den Stoff flicht, aus dem nicht etwa ein Bekenntnis, sondern eher ein anwaltlicher Schriftsatz gemacht ist. Er baut die Schilderung der Ursprünge seiner Beunruhigung sorgfältig auf und beginnt mit der Erzählung der eher harmlosen Umstände, um erst im schicksalhaften letzten Kapitel die gemeinschaftlich durchgeführten Feigheiten zu enthüllen, die den privaten mehr als ebenbürtig sind. Doch verweist jeder Vorfall auf Clamences grundlegenden Wesenszug, auf eine passive und allzu verbale Natur, die sich einem Engagement widersetzt und in Verlogenheit endet.
Die »Ermittlung« in Der Fall ist daher die logische Erfüllung des Themas, das mit Dostojewskis Inquisitoren begann. Passenderweise endet hier die Disjunktion Jurist/Verdächtiger, die nie absolut galt (man denke an Porfiri und Raskolnikow). Clamence, der »Buß-Richter«, führt sie in einer einzigen Figur zusammen. Daraus folgt, dass das einzige Objekt seiner Ermittlung, die, wie
Weitere Kostenlose Bücher