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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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neue entdecken und fühlte, wie das hinter ihm schwebende Messer der Guillotine bei jedem Satz, jedem Wort, bei jeder Bewegung mehr und mehr fortrückte. Dann wieder stand er auf der Tribüne der Kammer als Redner, von dessen Lippen das Heil eines ganzen Volkes abhängt, der seine Gegner mit der leidenschaftlichen Gewalt seiner Rede erdrückt, sie mit einem jähen Gegenhieb zermalmt, mit dem Klang und der Musik seiner Stimme, die bald ironisch, bald pathetisch, hingerissen oder erhaben klingt. (S. 121)
    Diese Passage liefert das beste Schlaglicht auf die Entwicklung in diesem Text seit Madame Bovary und Salammbô . Flauberts Frauengestalten lesen (oder es wird ihnen vorgelesen), sie träumen, handeln und sterben dann. Flauberts Männer träumen, freilich vonnichts Heldenhafterem als ihrem Juristendasein, handeln nicht und überleben. Doch bringt das Überleben den beiden Juristen am Ende dieses Romans (in Vorausahnung der beiden Juristen, mit denen Der Fall endet) nur eine weitere Flucht aus diesem verschachtelten Traum. Ihre abschließenden Worte lassen Summe und Substanz ihrer Gefühle anklingen, den Verlust von Dingen, die sich sowieso nicht ereignet haben, die Abwesenheit einer Abwesenheit, die Luftigkeit von nichts als Sprache:
    Eines Sonntags nun, während die anderen im Nachmittagsgottesdienst waren, pflückten Frédéric und Deslauriers im Garten von Madame Moreau Blumen, nachdem sie sich vorher hatten frisieren lassen, und verließen dann den Garten durch die Hintertür; auf einem großen Umweg durch die Weingärten kehrten sie über das Fischereihaus zurück und schlichen sich, noch immer mit ihren großen Sträußen in der Hand, zu der Türkin.
    Frédéric überreichte seinen Strauß wie ein Verliebter seiner Braut. Aber die Hitze im Haus, die Scheu vor dem Unbekannten, etwas wie Gewissensbisse und dazu der Genuss, mit einem Blick so viele Frauen zu sehen, erregten ihn dermaßen, daß er sehr bleich wurde und stehenblieb, ohne etwas zu sagen. Die Mädchen lachten alle vergnügt über seine Verlegenheit; er aber glaubte, daß man sich über ihn lustig mache, und floh. Und da Frédéric das Geld hatte, war Deslauriers wohl oder übel gezwungen, ihm zu folgen.
    Sie wurden gesehen, als sie das Haus verließen. Das gab eine Geschichte, die drei Jahre später noch nicht vergessen war.
    Ausführlich erzählten sie einander davon, und jeder ergänzte die Erinnerungen des anderen; und als sie zu Ende waren, sagte Frédéric:
    »Das war doch das Beste, was wir gehabt haben!«
    »Ja, vielleicht war das wirklich das Beste, was wir gehabt haben!« sagte Deslauriers. (S. 573)

Der Jurist im Roman und faschistische Herrschaft: Der Fall einer Zivilisation
    Wer keinen Charakter hat, muss sich wohl oder übel eine Methode zulegen.
    Clamence in Der Fall
    Würde man die Erzähler von Der Fremde und Der Fall zusammen in dieselbe Einheit der französischen Fremdenlegion stecken, würde jeder von beiden wohl lieber einen Monat lang alleine in der gnadenlosen Sonne und dem Sand der Sahara verbringen als nur einen Moment in Anwesenheit des anderen. Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass die starken Gegensätze zwischen den Charakteren die Kommunikation zwischen ihnen für immer unmöglich machen. Die ihnen gemeinsame Muttersprache wird von beiden mit so unterschiedlichen Zielen verwendet, dass diese Gemeinsamkeit ironischerweise ihren offensichtlichsten Unterschied ausmacht. Die sorgfältig verwendete Grammatik und Syntax und die pfiffigen Wortspiele von Jean Baptiste Clamence würden bei dem nicht identifizierten Publikum seines langen Monologs auf taube Ohren stoßen, sollte sich dieses als jemand vom Schlag Meursaults erweisen.
    Aber stattdessen sind wir, Sie und ich, Leser komplizierter literarischer Texte, Clamences Zuhörer; damit wird schon unsere Entscheidung, die Seiten von Der Fall [21] unter die Lupe zu nehmen, zu einem Hinweis auf unsere Verbundenheit mit ihrem wortreichen Erzähler, so, wie der Akt des Lesens allein bereits Entfremdung gegenüber dem wortkargen Meursault andeutet. Camus schafft es, die Identität möglichst vielsagend anzulegen, indem er die vermutete Affinität des Lesers mit Clamence mit den Voraussetzungen eines anderen belesenen und selbständigen Berufs in Verbindung bringt. Im letzten Absatz von Der Fall entdeckt Clamence, dass sein geduldiger Zuhörer wie er selbst zum Anwalt ausgebildet wurde.
    Clamences Beruf, Zeichen der unüberwindlichen Kluft zwischen ihm und Meursault, ist für seinen

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