Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Ungerechtigkeit. Auch wenn die großen Autoren sich viele Fragen über den Akt des Schreibens stellten – könnte es nicht sein, dass sie andeuten wollten, ihr narratives Instrumentarium sei auf eine Durststrecke geraten? Sprache kann Ethik und Werte nicht ersetzen, scheinen sie sagen zu wollen, doch kann sie ein Vakuum füllen, wenn alles andere zerrinnt. Recht erschien diesen Männern als das kulturell signifikanteste externe System, anhand dessen sie ihre Zweifel überprüfen konnten. Recht, das ebenso wie ihr eigenes Unterfangen der narrativen Form bedurfte, ersetzte allmählich Urteilsvermögen durch Scharfsinnigkeit, Inhalt durch Eleganz, Werte durch Wörter. Die Autoren fürchteten nicht nur den Verfall ihres eigenen Mediums, sondern sie begriffen die noch weitaus katastrophaleren Konsequenzen einer Ästhetisierung des Rechts. Es macht Sinn, dass sie das marktschreierische Gehabe des altbackenen europäischen Klerus in ihre Schilderung juristischer Themen einbauten. Letztendlich ging es um ein bankrottes moralisches System, das die etablierte abendländische Kultur nach fast zweitausend Jahren an und in den Abgrund getrieben hatte.
Wir haben das Kompendium der Charakterzüge herausgearbeitet, die von diesen Autoren einander klar gegenübergestellt wurden. Ressentiment, die Antithese spontaner Menschlichkeit, paart sich in ihren Texten mit Beredsamkeit, um Ungerechtigkeit zu erzeugen, aber die Verwendung von Wörtern im Dienst positiver Werte bleibt für die Autoren eine großartige Möglichkeit. Keines der Opfer ressentienter Philosophen, Priester oder Juristen kann allein alle diese heilbringenden Züge verkörpern. Doch es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein bisschen von Meursaults Mischung aus Vitalität und Aufrichtigkeit, Mitjas leidenschaftlichem Engagement für andere, Giscons ethischen Führungsqualitäten, Nelsons Verständnis für die Werte der ihm Unterstellten, Billy Budds Weigerung, klares Unrecht am Leben zu lassen – dass ein bisschen all dieser Qualitäten in einer Person oder einem ethischen System vereint unseren literarischen Giganten gefallen hätte. Unsere strukturellen Auslegungen zeigen, dass sie den Widerspruch solcher Charakterzüge zur Artikuliertheit nicht fürchteten. Ganz im Gegenteil erinnern sie uns gelegentlich daran, dass politische Führungskräfte inanderen Zeitaltern durchaus entschlossene Ethik und verbale Kraft zu verbinden wussten.
Diese Feststellungen bringen uns wieder zum Roman an sich zurück. Wir haben gesehen, wie legale Strukturen ein modernes Romanformat bereichern können, mit all ihren anti-aristotelischen Abschweifungen, Verzögerungen und Bekenntnissen der Autoren. Aber seit dem Zweiten Weltkrieg begegnete die Zukunft des Genres erheblichen Zweifeln. In Frankreich fordert Jonathan Littell mit seinen Wohlgesinnten unser Verständnis intellektualisierter Gewalt heraus – ein Meisterwerk, das zum Teil peinliche und ungerechtfertigt verhaltene Rezensionen erhielt. Die deutsche Literatur, insbesondere mit Grass, Böll und Schlink, ist wegen ihrer mutigen (wenn auch subtilen) Behandlung der Nazizeit zu bewundern. In Amerika wird die Tradition der Behandlung juristischer Themen in Romanen mit den ausgezeichneten Frühwerken von John Barth und E. L. Doctorow entschlossen fortgesetzt; dabei wird die Grenze zwischen Fakten und Fiktion zum Beispiel bei Truman Capote, Norman Mailer, Judith Rossner, Bernard Malamud und Barrie Stavis manchmal verwischt. Für diese Themen gibt es bei uns ein Gespür, das in anderen Ländern nicht vorhanden ist, doch scheint mir, dass die Saatkörner für eine Wiederbelebung des Genres bei weniger juristisch veranlagten Autoren zu finden sind. Insbesondere bei Saul Bellow weisen Vitalismus und eine echte ethische Perspektive den Weg zu einer Wiedervereinigung von Sprache und Werten.
Die Implikationen meiner Methode und Praxis für die Literaturkritik hängen vom Erfolg dieser Kapitel ab. Aber die Literaturtheorie der Nachkriegszeit ist von der Textualität so weit in die Geschwätzigkeit abgeschweift, dass man sich Sorgen um ihren bleibenden Platz in der Ideengeschichte machen muss. (Wie ich hoffentlich zeigen konnte, hätte sich mindestens Nietzsche solche Sorgen gemacht.) Mit Sicherheit sollte unsere Generation mehr als die unserer Vorgänger Sprachsystemen misstrauen, denen es an ethischen Signifikaten fehlt. Warum unsere Literaturkritik genau diese Richtung eingeschlagen, ja sogar die Vorstellung eines Signifikats in Frage gestellt
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