Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Bedacht behandelt werden. Manche Wahrheiten sind zu beunruhigend, um direkt ausgesprochen zu werden.
Was hier im nicht pejorativen Sinn als eine Art »bedachtsamer« Kommunikation postuliert wird, wird fragwürdig, sobald ein John Claggart sich ihrer bedient. In der bekannten Episode in der Messe (S. 361 f.) erweist sich Claggart nicht nur als Waffenmeister, sondern auch als Meister der Bedachtsamkeit. Billy schüttet den Inhalt seines Suppennapfes versehentlich vor Claggarts Füße (das »schmierige Naß« ist verständlicherweise ein beliebtes Thema freudianischer Interpretationen der Erzählung [16] ). Fast hätte er Billy geschlagen, doch rasch zügelt er sich. Seine strenge Miene ändert sich umgehend; er lächelt und sagt nur: »Schön gemacht, mein Junge! Und schön ist, wer Schönes tut!« Keiner der Matrosen in der Messe wird nun glauben, dass Claggart etwas gegen Billy hat. Aber als Claggart sich von den Männern abwendet, lässt er seine verbitterteWut an einem zufällig ihm in den Weg laufenden jungen Trommler aus, der womöglich nichts von Billys Natürlichkeit und Spontaneität hat. Damit stellt Melville ein Modell geschlossener Kommunikation bereit (ein Sonderfall der »bedachtsamen« Kommunikation der Historiker zur Meuterei bei der Nore), auf das wir im weiteren Verlauf der Analyse noch zurückkommen werden.
Unterdessen entwickelt sich aus Claggarts Antipathie gegenüber Billy eine Strategie. Er sendet mehrere Schiffskorporale aus, um den jungen Vortoppgast zur Meuterei anzustiften, aber Billy, in jeder Hinsicht Lord Nelsons loyales Gegenstück, weist sie ab. Schließlich, in Kapitel 18, unternimmt Claggart einen schicksalhaften Schritt. Vor Kapitän Vere bezichtigt er Billy der Verabredung zur Meuterei. Mit der üblichen Umschweifigkeit bringt er den zögernden und ungläubigen Kapitän trotz dessen Verärgerung dazu, Billy rufen zu lassen, damit der sich gegen die Beschuldigung verteidige. Billys Stottern (seine einzige Schwachstelle) hindert ihn daran, eine zusammenhängende Antwort zu geben. »Reden Sie«, fordert ihn der Kapitän wiederholt auf. Aber der Schöne Matrose, der noch nie viel geredet hat, reagiert anders. Die ihm eigene Harmonie von äußerer Form und innerem Wesen zwingt ihn zum nonverbalen Ausdruck der Abscheu, die ein ungerechter Angriff bei ihm auslöst. Billy schlägt zu, und Claggart fällt in der Kajüte zu Boden. Vere, von diesen Ereignissen in einer für ihn völlig untypischen und fast kathartischen Art und Weise bestürzt, ruft aus: »Von einem Engel Gottes erschlagen! Und doch muß der Engel hängen!« (S. 398) Der Schiffsarzt, erstaunt über die Erregung des normalerweise so ruhigen Kapitäns, bestätigt Claggarts Tod. Vere beruft sofort ein Standgericht ein, obwohl der Arzt und die anderen Offiziere unter sich der Auffassung sind, dass »die Gepflogenheiten vorschrieben […] die Sache dem Admiral zu übergeben« (S. 399). [17]
Kapitel 21 ist das längste Kapitel der Erzählung und beschreibt Billy Budds Prozess wegen Schlagens eines Vorgesetzten »im Kriege und auf See« (S. 412). Es wird sich noch zeigen, dass Vere während des Plädoyers keine andere Beschuldigung vorbringt. Ein handverlesenes Gericht, das seinen Kapitän anhört, in Personeinheit der einzige unparteiische Zeuge, aber auch Ankläger undRichterkollege, [18] überwindet seine ursprünglichen Bedenken und verurteilt Billy zum Tod durch Erhängen.
Vor einer schreckerfüllten Mannschaft wird Billy schon am nächsten Tag hingerichtet. Vere schickt die Männer schnell wieder an die Arbeit und beschwichtigt die Befürchtungen seiner Offiziere, die Matrosen könnten meutern, nachdem ihr Liebling so aus der Welt geschafft wurde, indem er den mildernden Einfluss von »Form, Maß und Form« (S. 433) auf die Mannschaft empfiehlt. Die Männer kehren gefügig zu ihren Pflichten zurück; wir hatten ja schon früher in der Geschichte erfahren, dass auf der Bellipotent »für einen gewöhnlichen Beobachter kaum etwas im Gebaren der Männer […] darauf [hindeutete], daß die Große Meuterei nicht lange zurücklag« (S. 345). Vielleicht ist die Mannschaft partiell durch die letzten Worte des ungebrochen loyalen und endlich nicht mehr stotternden Billys befriedet worden (S. 427): »Gott segne Kapitän Vere!«
Dies ist der Stand der Dinge, und er bleibt unbemerkt, bis kurioserweise ein Bericht von jemand, der den Ereignissen nicht beigewohnt hatte, unter dem Titel Nachrichten vom Mittelmeer die Leser einer
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