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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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hat, soll in einem nächsten Band untersucht werden. Wir könnten entdecken, dass die Beziehung zwischen Ästhetik und Ethik, Form und Inhalt oder Interpretationstheorie und historischem Kontext an keiner Stelle besser angegangen wird alsdurch die Verwendung, die in der Literatur vom Recht gemacht wird.

»So seid denn Ihr sein Bürge«: Schwur und Scheitern von Vermittlung – Ein Nachtrag zu Poesie und Ethik in Der Kaufmann von Venedig
    Juristische Kommentare von Shakespeare-Experten und Juristen zu Der Kaufmann von Venedig [1] haben sich auf die Prozessszene konzentriert. Darin versucht Shylock vor einem venezianischen Zivilgericht, die Buße für die nicht fristgerechte Zahlung eines Darlehens geltend zu machen, zu der sich sein Gegner Antonio, der Kaufmann, in einer Schuldverschreibung (im Stück meist »der Schein« genannt) verpflichtet hatte: ein Pfund aus dem Fleisch des Kaufmanns. Porzia, die verkleidet als eine Art amicus curiae , sachverständiger Berater des Gerichts, erscheint, in Wirklichkeit die Abgesandte [2] eines Rechtsgelehrten, macht Shylock einen Strich durch die Rechnung, indem sie die Bußklausel extrem eng auslegt (»kein Tröpfchen Blut, […] nicht mehr noch minder […] als ein genaues Pfund«). Weiter beruft sie sich auf ein Gesetz, nach dem Shylocks Verhalten selbst strafbar wäre, und durch die Vermittlung des unverhofft obsiegenden Antonio wird Shylock zum Gegenstand einer komplizierten Serie von Schenkungen unter Lebenden und testamentarischen Beschränkungen seines Reichtums. [3] Außerdem muss er zum Christentum übertreten.
    Zum Verständnis der Schuldverschreibung muss der Leser noch einmal zur dritten Szene des ersten Aufzugs zurückkehren, wo ihre Bedingungen definiert werden und wo die Absicht der Parteien in etwas verschwommener Form enthüllt wird. Eine sorgfältige Erörterung, die vor allem von Juristen geführt wurde, kam zu dem zutreffenden Ergebnis, dass die Schuldverschreibung hier eine simplex obligatio und damit ein unbedingtes Zahlungsversprechen ist: [4] Zahlt Antonio das Darlehen über 3000 Dukaten nicht zu einem bestimmten Datum zurück, wird die Buße automatisch verwirkt. [5] Das Angebot der Zahlung in der öffentlichen Gerichtsverhandlung – nach den Bestimmungen der Schuldverschreibung zu spät – kann Antonio weder nach englischem Common Law (» single money bond «) oder römischem Zivilrecht retten, wenn Shylock auf der Buße besteht. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass Antonio die Buße trotz einer gewissen Lockerheit Shylocks bei ihrer Erwähnung im ersten Aufzug durchaus ernst nimmt, versteht, den Zweifeln seines Freundes Bassanio widerspricht und alle vorangegangenen Verhandlungen auf eine gesiegelte rechtswirksame Urkunde mit besonderer Betonung der Bußbestimmungen reduziert. Weder an diesem Punkt der Komödie noch während der Prozessszene wird von einem der Beteiligten die Nichtvollstreckbarkeit einer so offenbar sittenwidrigen Klausel auch nur implizit angesprochen. Wie der renommierte Naturrechtler Rudolph von Ihering im ausgehenden19. Jahrhundert schrieb, muss die Prozessszene, in der das Problem der Sittenwidrigkeit ausgeklammert wird, auf die relativen Stärken und Methoden von Porzias Verfahrensstrategie untersucht werden. [6] Von Ihering verteidigt leidenschaftlich Shylocks Position als Außenseiter, der verlangt, dass das Recht durchgesetzt wird. »Wie mächtig, wie riesig dehnt sich die Gestalt des schwachen Mannes aus, wenn er diese Worte [Gesetz] spricht, es ist nicht mehr der Jude, der sein Pfund Fleisch verlangt, es ist das Gesetz Venedigs selber, das an die Schranken des Gerichts pocht.« [7] Andere haben darauf hingewiesen, dass eine derartige Buße unter römischem Recht womöglich vollstreckbar gewesen wäre; [8] Experten des Common Law meinen, dass Shakespeare vielleicht auf die Grausamkeit des englischen Rechts und die Notwendigkeit einer Milderung durch die neuen Equity-Gerichte anspielen wollte. [9]
    Für die Zwecke dieses Aufsatzes möchte ich mich jedoch weniger mit diesen gut beackerten Feldern, sondern eher mit den weitgehend noch unerforschten Gebieten von Recht und Literatur beschäftigen. Dazu soll ein anderes in der dritten Szene des ersten Aufzugs gegebenes Versprechen betont werden, das die meisten Kritiker vernachlässigen, obwohl es in der Prozessszene mehrfach angesprochen wird. Anschließend wende ich mich dem fünften Aufzug zu, der trotz seiner Fülle an juristischen Bildern und Gedanken über Eid und

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