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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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zeitgenössischen Marinechronik erreicht. In diesem »seit langem veralteten und vergessenen« Bericht, der in Kapitel 29 (S. 436 f.) wiedergegeben wird, werden Werte auf den Kopf gestellt und Fakten durcheinandergebracht. Claggart wird als aufrechtes Vorbild für Loyalität, Billy als verworfener Ausländer beschrieben, der jenem aus Rache »sein Messer […] ins Herz stieß«. Die »bedachtsame« Kommunikation der Historiker der Meuterei bei der Nore wurden in diesem amtlichen Bericht mit dem Ziel übernommen, die Leser zu beschwichtigen und ihnen eine patriotische Lektion zu erteilen. Nur Melvilles »Innenansichten einer Geschichte« stellen die Sache richtig.
    Vere selbst, ohne Zweifel zerbrochen an einer Entscheidung, von der er sagt, dass das Recht ihn dazu gezwungen habe, erholt sich davon nicht mehr. Er wird in einem unbedeutenden Gefecht vor den berühmten Episoden am Nil und bei Trafalgar verwundet, der »Mann, der vielleicht trotz seiner philosophischen Nüchternheit der geheimsten aller Leidenschaften, dem Ehrgeiz, gefrönt haben mochte, gelangte nie zur Fülle des Ruhmes« (S. 435). Er stirbt, während er »Billy Budd, Billy Budd« flüstert, Worte, die von allen, die Zeugen der außerordentlichen Ereignisse auf der Bellipotent gewesen waren, gut verstanden werden. So begreift der Hauptmann der Marinesoldaten, dasjenige Mitglied von Billy Budds Standgericht, das sich »am stärksten gegen den Schuldspruch gesträubt hatte«, die zentrale Bedeutung von Billys Prozess und Hinrichtung für Veres Existenz und auch, warum Vere bei seinem Tod mit dem Vorfall beschäftigt ist. Doch wie die meisten der Untergebenen Veres »[behielt er] sein Wissen für sich« (S. 436).
    Die Erzählung endet in einem recht eindeutigen, sehr lyrischen Ton. Denn die Mannschaft – die aufrechten, offenen und unkomplizierten Matrosen – hat sich eine Ballade mit dem Titel »Billy in Fesseln« ausgedacht. Ihre anrührend einfachen Verse handeln vom heroischen Billy im Angesicht des Todes, der »Juwel« des Schiffs, der nur ohne Bitterkeit feststellen kann:
    Ach mich – nicht das Urteil – heben sie auf. (S. 439)

Schlussbemerkung
    Wir haben die extrem komplizierten Welten vier großer Schriftsteller durchquert und kommen von dieser Reise mit frischem Gespür und neuen Einsichten zum modernen Roman zurück. Ich hoffe, dass wir hier neue Vergleichsperspektiven auftun konnten, nicht nur in der Betonung juristischer Themen, sondern auch durch die Anreicherung einer bisher schon häufiger untersuchten Autorentrias durch Flaubert. Die Teilnahme dieses großen handwerklichen Könners an der seinerzeit zentralen Wertekrise nicht anzuerkennen, würde seine Werke und die der deutlicher sozial orientierten Autoren Dostojewski, Melville und Camus schmälern.
    Ich vermute, dass die vielfältigen Schilderungen von Juristen, Ermittlungsverfahren und Gesetzestexten im modernen Roman jetzt etwas verständlicher erscheinen. Seit Balzac und Scott, Hawthorne und Cooper klingt die Sprache des Rechts im Roman an. Meine Hoffnung ist, dass die Linien, die wir in den Werken von vier Autoren verfolgt haben, auch auf die Werke anderer verlängert werden können. Derartige Arbeiten zeichnen sich ab, wo Interpreten anerkennen, dass die Rolle des Rechts in den Romanen so unterschiedlicher Autoren wie Thackeray, Trollope, Tolstoi, Dickens, Kafka, Twain, Faulkner, Doctorow, Malamud und Barth kein Zufall ist. Es liegt auf der Hand, dass hier generell etwas in Gang kommt, und das Recht hat (wie in ein oder zwei anderen literarischen Epochen) seinen strukturellen Platz in der Selbstkritik und bei den Veränderungen.
    Wir sind jetzt in der Lage, die »Philosophie« mancher leicht identifizierbarer intellektueller Protagonisten im Lichte der rechtlichen Aussagen weniger gründlich analysierter Personen im selben Text besser zu verstehen. Alle diese Romanfiguren sind wortgewandt und bringen die tief greifenden Ambivalenzen ihrer Schöpfer zum Vorschein. Es ist erstaunlich, wie brutal ihr passives Medium, das Wort, werden kann und wie wenig greifbaren Nutzen die Allgemeinheit aus ihrer ansonsten bewunderungswürdigen Beredsamkeit ziehen kann.
    Mit diesem Bewusstsein wird es meiner Meinung nach möglich, gewinnbringende härtere Fragen zu Recht, Religion, Literatur undLiteraturkritik zu stellen. Immer wieder führen narrative Handlungen in diesen Texten zu Passivität gegenüber unbestreitbarer Ungerechtigkeit oder, noch schlimmer, zur Schaffung ebendieser

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