Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
der Landbewohner, ist er in mancherlei Hinsicht eigenartig anders als dieser. Der Seemann ist voller Freimut, der Landbewohner ist voller Finesse. Für den Seemann ist das Leben kein Spiel, das den kühlen Kopf braucht, – kein verwickeltes Schachspiel, in dem wenig gradlinige Züge gemacht und Ziele auf Umwegen erreicht werden, ein winkliges, mühsames, fruchtloses Spiel, die arme Kerze kaum wert, die beim Spiel niederbrennt.
Ja, die Seeleute sind als Klasse ihrem Charakter nach eine jugendliche Spezies. (S. 380)
Claggart ist wie Vere »voller Finesse«, insbesondere sprachlicher Finesse, geschickt bei verbaler Vernebelung und bei der Erreichung von Zielen auf Umwegen. Diese Züge, die an Land nichts Besonderes sind, stehen in Widerspruch zur Freimut von Seeleuten.
Claggart, dessen täglicher Umgang mit den Matrosen seinen Sinn für Dialektik schärft, leidet unter einer Animosität, die von seinem Kapitän nicht geteilt wird. Er ist auf Billy Budd fixiert. Diese Leidenschaft, »nie […] offen genannt« (S. 367), wird in einer überaus wichtigen Passage behandelt, die hier partiell zitiert werden soll. Der komplette Text wird erst für die Analyse im nächsten Kapitel verwendet:
Aber das Merkmal, das in herausragenden Fällen eine derart außergewöhnliche Natur anzeigt, ist dies: obgleich die ausgeglichene Stimmung und das unauffällige Verhalten dieses Menschen eigentlich auf ein Gemüt hinzuweisen scheinen, das in besonderer Weise dem Gesetz der Vernunft unterworfen ist, so wütet er in seinem Herzen trotzdem in völliger Freiheit von jenem Gesetz und bedient sich anscheinend nur insofern der Vernunft, als er sie als zweischneidiges Instrument dafür einsetzt, das Vernunftwidrige zu bewirken. Will sagen: um ein Ziel zu erreichen, dessen lüsterne Grausamkeit dem Irrsinn verfallen scheint, wird er sich einer gesunden, kühlen, klugen Urteilskraft bedienen. (S. 366)
Warum hat Claggart es auf Billy »abgesehen« (S. 378)? Wir wissen es nicht genau. Aber der weitere Fortgang der Geschichte liefert uns Hinweise. Billy und Claggart sind gegensätzliche Typen. Es wurde zu einem Gemeinplatz der Literaturkritik, diesen Gegensatz als einen von Gut und Böse zu begreifen, oder als den von Herz und Hirn, aber diese Analysen sind reduzierend und werden dem Text als Ganzem nicht gerecht. [14] Der echte Gegensatz, wie er in der zitierten Passage angedeutet wird, besteht zwischen der angeborenen, fröhlichen Offenheit des schönen Matrosen und der »schmeichelhaften« Umschweifigkeit des intelligenten Waffenmeisters oder, wie ich die Dialektik hier bezeichnen werde, zwischen Offenheit und Geschlossenheit.
»Wie stark der Vorsatz beim Schreiben auch sein mag, den Hauptweg nicht zu verlassen,« erklärt uns Melville, »einige Seitenpfade sind derart verlockend, dass man ihnen nicht leicht widerstehen kann« (S. 340). [15] Daher möchten wir kurz etwas zurückspringen, um mehr zu Offenheit und Geschlossenheit in Erfahrung zu bringen. An einer früheren Stelle des Texts liefert Melville demLeser bei der Beschreibung des historischen Hintergrunds einen wertwollen Hinweis auf den Sinn der Erzählung. In Kapitel 3 beschreibt er, wie britische Historiker die Meuterei bei der Nore dem zu Hause gebliebenen Publikum schilderten:
Solch eine Episode in der großartigen Geschichte der Marine des Inselreichs wird von seinen Marinehistorikern natürlich verkürzt behandelt; einer von ihnen (William James) gibt offen zu, er würde sie nur zu gern übergehen, jedoch: »Unparteilichkeit darf nicht wählerisch sein.« Und dennoch bietet er weniger einen Bericht als vielmehr einen Hinweis, fast ohne Details. Auch in Bibliotheken findet man diese nicht eben leicht. Wie gewisse andere Ereignisse, die sich in allen Ländern und in jeder Epoche zutragen, auch in Amerika, gehörte die Große Meuterei zu den Erscheinungen, welche der Nationalstolz und allerlei politische Erwägungen nur zu gern in den schattigen Hintergrund der Geschichte schieben. Man kann solche Ereignisse nicht ignorieren, aber auf eine bedachtsame Weise historisch abhandeln. Wenn ein Mensch mit guten Anlagen darauf verzichtet, ein Mißgeschick oder einen Unglücksfall in der Familie herauszustreichen, so verdient eine Nation keinen Vorwurf, wenn sie in vergleichbaren Umständen ähnlich besonnen ist. (S. 339 – Herv. R.W.)
Autoritätspersonen, erklärt Melville, sollten nicht einfach unumwunden alles sagen, was sie wissen oder glauben. Ein interessiertes Publikum muss mit
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