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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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Versprechen normalerweise sogar von juristischen Analysen des Stücks übersehen wird. Meine These ist, dass die juristischen Aspekte des Stücks ein Licht auf die von mir so genannte Struktur der Vermittlung in Der Kaufmann von Venedig werfen. »Vermittlung« wird in diesem Aufsatz als entscheidender Eingriff einer in einer früheren Beziehung ursprünglich nicht beteiligten Partei definiert. Dieser Eingriff zielt darauf ab, Unentschlossenheit (oder Stillstand) in der genannten Beziehung zu beseitigen und sie entweder weiterzuentwickeln oder zu beenden.
    Im gesamten Verlauf der Komödie treten Figurenpaare auf, die sich gegenseitig verpflichtet sind und als unfähig dargestellt werden, ihre Angelegenheiten ohne Eingriffe Dritter zu regeln. Häufig geht es bei der Unentschlossenheit des Figurenpaars um ein Schriftstück.
    Der Vermittler löst jede dieser Situationen, indem er die beiden Parteien aus der problematischen Verbindung entlässt. In zunehmendem Umfang wird die Rolle des Vermittlers mit der eines Dolmetschers verknüpft, dessen hermeneutische Funktion darin besteht, die Betroffenen aus ihrem übermäßig bedrohlich empfundenen Verhältnis mit einem maßgeblichen Text zu befreien. Außerdem entspricht die vermittelnde Handlung oder Erklärung dem Genre der Komödie selbst, was in beruhigender Weise drohende Tragödien oder moralische Konflikte ausschließt, wenn Shylocks Prozess gegen Antonio dank einer Serie sich steigernder Eingriffe total zunichte gemacht wird. Doch im fünften Aufzug wird die Struktur der Vermittlung zurückgewiesen, und das Einhalten von Versprechen wird mit der Wahrung direkter moralischer Verpflichtungen und genauer textueller Verantwortung auf eine Stufe gestellt.
    In jedem der vier vorhergehenden Aufzüge ist ein strukturell zentrales Beispiel für Vermittlung enthalten. In der dritten Szene des ersten Aufzugs werden Shylock und Bassanio gezeigt, die unentschlossen die Ankunft Antonios, des gewerblichen Maklers und Bürgen, [10] erwarten. Der Kaufmann, der einflussreichste Vermittlerim Stück, steht zwischen Gläubiger und Schuldner, um Letzterem kraft seines eigenen Reichtums Mittel zu beschaffen. In der Mitte des zweiten Aufzugs wird die Vater-Tochter-Beziehung von Shylock und Jessica als ähnlich fruchtlos beschrieben, bis Lorenzo auftritt, um das jüdische Mädchen zu »retten« und das Vermögen des Vaters bei dem Handel etwas zu schröpfen. Im zweiten Aufzug wird auch die im dritten Aufzug vollendete Nebenhandlung mit den Kästchen eingeführt, in der Porzia, perplex vor dem Text des testamentarischen letzten Willens ihres Vaters, erst durch Bassanio (der wiederum unter der Vermittlung des Venture-Kapitalisten Antonio steht) erlöst wird, der die Forderung durch richtige »Lektüre« des Kästchens erfüllt. Porzia, die in der Wahl ihres Ehemanns durch den Willen ihres Vaters komplett vermittelt wird, wird durch die Vermittlung einer bereits unter Vermittlung stehenden Figur gerettet, deren Auftreten und Gewinnchancen sich aus dem Kredit eines anderen und aus den flüssigen Mitteln noch eines anderen ableiten. Die aus kaufmännischen Gründen erforderliche Bürgschaft hat sich nun zu einer Reihe von Vermittlungen entfaltet, die persönliche Bindungen für Kinder und Ehegatten betreffen. Niemand scheint bereit zu sein, gegenüber anderen aus direkter Verpflichtung zu handeln. Im vierten Aufzug wird schließlich auch das Recht von diesem Phänomen erfasst, und hier wird ein vernichtendes Urteil über die Unfähigkeit von Rechtssystemen gefällt, Streitigkeiten direkt zu lösen. Der Doge, augenscheinlich der vorsitzende Magistrat am venezianischen Gerichtshof, muss die Ankunft Porzias (vermittelt durch ihre Verkleidung) abwarten, ehe erfolgreich Recht gesprochen werden kann. Am Ende der Prozessszene tritt zu Porzias Vermittlung die Antonios (der auf Verlangen Porzias die abschließende Lektüre des Fremdenrechts besorgt), und Shylock wird gewaltsam, aber nur vorübergehend, aus dem hermeneutischen Zirkel des Prozesses und des Stücks im Ganzen entfernt.
    Shylocks Entfernung stellt die notwendige öffentliche Niederlage seines alternativen, nicht vermittelten Musters moralischen Verhaltens dar. Aber im fünften Aufzug wird die bis dahin dominante Tendenz zur Vermittlung umgekehrt und Shylock auf Kosten vonAntonio, dem im Stück einflussreichsten Mittelsmann, noch einmal ins Spiel gebracht. Um dies zu begreifen, müssen wir noch einmal im Einzelnen auf den Anfang der Komödie

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