Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
lässt, weist darauf hin, dass Ressentiment häufig durch externe Ereignisse motiviert ist, die auf eine überhitzte verbale Vorstellungskraft einwirken. Die gegenläufige Chronologie des Aufbaus ermöglicht das klare Verständnis der Wechselwirkung dieses Verhältnisses: Die im zweiten Teil beschriebenen externen Ereignisse haben zum romantischen Philosophieren im ersten Teil geführt; dieser wiederum zeigt die ressentierende Perspektive auf, aus der die Jugenderlebnisse des Protagonisten etwa fünfzehn Jahre später gesehen werden.
Die beiden Teile dieses bekannten Romans Dostojewskis haben es Kritikern, die Sympathien für die Philosophie des Kellerlochmenschen empfinden, erleichtert, ihre Analyse auf den ersten Teil zu beschränken und die diese Philosophie inspirierenden Ereignisse im zweiten Teil praktisch zu ignorieren. Apologeten des Protagonisten, angefangen beim existentialistischen Kritiker Leo Schestow bis hin zu vielen neueren Interpreten [12] vergessen gerne, dass die Ergüsse in der ersten Hälfte des Romans aus der fiktiven Feder derselben Person stammen, deren klägliche Ansätze zur Interaktion mit anderen Menschen erst später beschrieben werden. Denn in seinen »Beziehungen« mit dem Offizier aus dem schäbigen Restaurant, mit Swerkow, mit Lisa und sogar mit seinem Diener Apollon durchlebt der Tagebuchschreiber im zweiten Teil alle Phasen des Phänomens Ressentiment. Diese wenigen gescheiterten Interaktionen mit anderen haben ihn ins Kellerloch gebracht, in dem er für immer die aus ihnen folgende Erniedrigung ressentieren kann. Aber selbst wenn eine Interpretation den zweiten Teil ignoriert, wird mit den internen Belegen aus dem ersten Teil der Nachweis für die jämmerliche Unterwerfung des Protagonisten unter einenarrative Form geführt, die eine ungezwungene Reaktion auf Menschen und sogar auf Ideen völlig blockiert.
Wenn wir anerkennen, dass wir es mit einer Geschichte und nicht mit einer Abhandlung zu tun haben, können wir den tiefen Sinn des Romans besser verstehen. Denn wenn der Protagonist aus dem Kellerloch zum Sprecher der Existentialisten des 20. Jahrhunderts geworden ist und wenn, wie ich zeigen werde, seine Tiraden im ersten Teil in subtiler Weise die Triebfeder der Negativität verschleiern sollen, kann die Geschichte letztlich als brillante Kritik derer verstanden werden, die mit ihrer Freiheit protzen, deren Philosophie aber in Wirklichkeit aus passivem Ressentiment und unterdrückter Gewalt herrührt (und auch dazu führt).
Im ersten Teil werden drei grundlegende Aspekte des Charakters des Protagonisten eingeführt: seine Streitsucht, seine obsessive Selbstwahrnehmung und seine Geschwätzigkeit. Schon im ersten Absatz steht das Adjektiv zloi im Mittelpunkt, das russische Wort, das dem Wort ressentierend am nächsten kommt, und das in Dostojewskis gesamtem Werk mit Intellektuellen assoziiert wird. »Ich bin ein kranker Mensch… Ich bin ein böser [ zloi ] Mensch«, beginnen die »Bekenntnisse« aus dem Kellerloch (S. 3). Wir werden direkt in eine Geisteshaltung versetzt, die dem edlen Helden der prämodernen Literatur diametral entgegengesetzt ist. Der Kellerlochmensch gibt zu, dass er kein Achilles ist; der wortreiche Thersites rächt sich jetzt als epischer Held, und Gehässigkeit ist von der Peripherie abendländischer Literatur in deren Zentrum vorgerückt.
Der Kellerlochmensch findet im Leser seines Tagebuchs rasch ein Objekt seines charakteristischen Grolls. Ganz unnötigerweise drängt er uns seinen unsensiblen Spott auf: »Nein, meine Herrschaften, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht das nur aus Bosheit [ zlost’i ]. Sie werden sicher nicht geneigt sein, das zu verstehen. Nun, meine Herrschaften, ich verstehe es aber« (S. 3). Und weiter: »Glauben Sie, meine Herrschaften, daß ich jetzt etwa irgend etwas bereue, vor Ihnen? Daß ich für irgend etwas Ihre Verzeihung erbitte? Ich bin überzeugt, daß Sie das glauben … Doch übrigens, ich versichere Sie, mir ist es ganz gleich, was Sie da glauben …« (S. 5). In einer bewussten Parodie des Stils der Rousseauschen Tagebuchschreiber und im Vorgriff auf den Stil von Camus’ Clamence offenbart Dostojewskis Protagonist seinen Mangel an wirklicher Selbstanalyse. Die der Beziehung zwischen Sprecher und Zuhörer vom Kellerlochmenschen auferlegte gegenseitige Gehässigkeit schafft es, aus dem ersten Teil jede Art aufrichtiger Kommunikation zu eliminieren.
Unter Einsatz einer überaus geschickten
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