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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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Rationalisierung zieht der Kellerlochmensch allgemeine Schlüsse aus der eigenen, offen zu Tage tretenden Negativität: Er erklärt, dass alle intelligenten Menschen unter »zuviel Bewußtsein – eine […] richtige, regelrechte Krankheit« – leiden (S. 5). So wird Intelligenz als Schwäche dargestellt, die einigen Bedauernswerten von der verhassten »Naturgesetzmäßigkeit« auferlegt wurde. Diese Menschen verlieren in der Folge die Fähigkeit der Selbstverwirklichung, weil im 19. Jahrhundert »[ein] kluger Mensch [ umni čelovek ] ernsthaft überhaupt nie etwas werden« kann (S. 5). Nur im Akt des Schreibens wird er zu etwas, denn allein dadurch kann er die einzige ihm verbleibende Emotion, den »Genuß, der […] in dem […] Bewußtsein der eigenen Erniedrigung« liegt, zum Ausdruck bringen. (»Deswegen habe ich doch zur Feder gegriffen«, sagt der Protagonist, S. 9.) Nur über narrative Formen ist eine sinnvolle Einstellung zum Leben möglich, und aus diesen Formen greift der Protagonist bezeichnenderweise das Paradigma von Kränkung und Rache heraus:
    Und schließlich, hätte ich mich entschlossen, durchaus nicht großmütig zu verfahren, und mich, ganz im Gegenteil, am Beleidiger rächen wollen, so hätte ich mich doch für nichts und an niemandem rächen können, weil ich wahrscheinlich nicht gewagt hätte, etwas zu tun, selbst wenn ich es gekonnt hätte. Warum hätte ich es nicht gewagt? Darauf möchte ich mit einigen Worten eingehen. (S. 10)
    Viele Leser schätzen Kapitel 2 als Zeichen edler Entfremdung und Feinfühligkeit eines existentialistischen Helden. Eine andere Betrachtungsweise versteht dieses Kapitel und jene »einigen Worte«, die ihm folgen, als Ausdruck eines hoffnungslos statischen oder nicht existentialistischen Bewusstseins. In diesem rhetorischen Meisterwerk werden Ursachen und Wirkungen zwanglos ineinander verquickt. Intelligenz wird nach Belieben mit Nichtverwirklichung, idiosynkratische Krankheit mit einer verbreiteten gesellschaftlichen Situation verknüpft. Statt vom Bewusstsein einer persönlichen Malaise ausgehend nach ihrer Ursache zu suchen (dem normalen Weg einer Heilung), schafft es der Erzähler, in umgekehrter Richtung zu arbeiten. Er setzt die Ursache; das ungreifbare »19. Jahrhundert«, alsPostulat, und zieht daraus den perversen Schluss, dass ein negatives Syndrom (Rachsucht) der Reflex einer positiven Bedingung (Intelligenz) sein muss. Diesem logischen Hirngespinst zu entrinnen ist unmöglich. Seit Hamlets Bemerkung »Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram,/Daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam!« ist dies das erste signifikante literarische Beispiel für mauvaise foi . Beide Protagonisten geben die Schuld an ihren krassesten Schwächen einer externen Kraft, der Zeithaftigkeit. [13]
    Mit ungemeinem Einfühlungsvermögen in die zwanghaften Interessen derartiger Protagonisten lässt Dostojewski den Kellerlochmenschen nun sein Traktat mit einer Dialektik zu dem Thema vorbringen, das ihn am meisten zu interessieren scheint: Kränkung und Rache. Jemand, der kein Intellektueller ist und sich gekränkt fühlt, erfahren wir, »schießt denn auch sofort wie ein wildgewordener Stier mit gesenkten Hörnern auf das Ziel los, und höchstens eine Mauer kann ihn noch zum Stehen bringen« (S. 10 f.). Andererseits macht der überbewusste Mensch, der sich selbst als »Maus« versteht, sein Racheproblem so kompliziert, dass er den Angriff nicht einmal beginnt. Jahrzehntelang haben Kritiker über die Bedeutung der »Mauer« gestritten, die Kraft, vor der selbst der Tatmensch »sich geschlagen gibt«, und über die die »Maus« ab Anfang von Kapitel 3 endlose Theorien aufstellt. [14] Die Mauer stehtoffensichtlich zwischen allen Menschen und einer erforderlichen Handlung. Wenn ein »normaler Mensch« auf der Suche nach solchen Handlungen auf die Mauer stößt, gesteht er sich ein, dass sie ihm eindeutig überlegen ist, und geht zu anderen Tätigkeiten über. Er nimmt die Mauer als solche, als eine Gegebenheit war:
    Als ob eine solche Mauer tatsächlich eine Beruhigung wäre, als ob sie den geringsten Trost enthielte, einzig, weil sie zwei mal zwei gleich vier ist. (S. 14 f.)
    Existentialisten wie Schestow machen sich die wohl artikulierte Weigerung des Protagonisten zu eigen, sogar diese grundlegende externe Realität ohne weiteres Nachdenken zu akzeptieren:
    Herrgott, was gehen mich aber die Naturgesetze und die Arithmetik an, wenn mir diese Gesetze und das

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