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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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Zwei-mal-zwei-gleich-vier nicht gefallen? Versteht sich, ich werde in eine solche Mauer mit der Stirn keine Bresche schlagen können, wenn ich tatsächlich die Kraft dazu nicht habe, aber ich werde mich mit ihr auch nicht abfinden, bloß, weil ich vor einer Mauer stehe und meine Kräfte nicht ausreichen. (S. 14)
    In der Tat sind diese Passagen ein oberflächlicher Ausdruck einer heftigen Ablehnung des Rationalismus im Namen der Freiheit. Kein Wunder, dass zum Beispiel Schestow den Kellerlochmenschen mit Nietzsche, Kierkegaard und sogar Sokrates vergleicht. [15]
    Betrachtet man die Qualität der Voraussetzungen der Argumentation genauer, ohne dass eine Analyse ihrer Quelle nötig wäre, wird die deterministische Einstellung des Protagonisten deutlich. Aus den Tiefen seines negativen Wesens setzt der Erzähler zunächst voraus, dass sogar der Tatmensch sich vor der Mauer geschlagen gibt. Ein derartiger Mensch beginnt jedoch wenigstens zu handeln, wohingegen der Protagonist sich bereits als jemand zu erkennen gegeben hat, der sich »für nichts und an niemandem [hätte] rächen können«. Die Maus würde nicht im Traum daran denken, gegendie Mauer anzurennen, und erst recht nicht, in sie mit der Stirn eine Bresche zu schlagen; stattdessen erfindet sie für sich so viele Zweifel über die Mauer, dass sie keine einzige Bewegung macht, um eine tief empfundene Kränkung zu beseitigen. Die ursprünglichen Gründe (die Begründetheit eines Angriffs auf den Unterdrücker unabhängig von den Erfolgsaussichten) werden durch nicht enden wollendes Hinterfragen ersetzt (Sollte ich handeln? Wird sich eine bessere Gelegenheit zum Handeln ergeben? War mein Feind wirklich im Unrecht? Bewundere ich ihn vielleicht sogar zuinnerst? Würde ich mich lächerlich machen? Usw.).
    Aber die Mauer, die gelegentlich sogar für den Tatmenschen ein Hindernis darstellt, lässt definitionsgemäß nicht viel Platz für Fragen. Sie steht für ein Axiom menschlicher Erfahrung. Zwei und zwei ist eben vier. Es gibt Dinge im Universum, die materiell wahr und einer Veränderung durch den Menschen unzugänglich sind. In Nietzsches Worten (und der Kellerlochmensch ist kein Nietzscheaner!): »Solche Wahrheiten gibt es.« Die Bereitschaft, seine natürlichen Fähigkeiten voll auszutesten, adelt den nicht unintelligenten » homme de la nature «; er lässt nicht zu, dass Unwägbarkeiten ihn daran hindern, sein Schicksal frontal anzugehen. Daher ist der Mensch des 19. Jahrhunderts, selbst wenn er so mittelmäßig wäre, wie der Kellerlochmensch bösartig behauptet, dem Erzähler einen Schritt voraus. Beide sind gleichermaßen von der Mauer fasziniert; keiner hat die heroische Fähigkeit, ihr die Stirn zu bieten. Doch während der normale Mensch ihre unumstößliche Präsenz akzeptiert, macht der Ressentierende sie sich zum persönlichen Gegner und definiert sein Leben als Reaktion darauf. Daher wandelt der Kellerlochmensch und nicht, wie es zunächst scheinen mag, der normale Mensch, eine fundamentale Wahrheit in einen »befriedigenden Determinismus« [16] um.
    Wiktor Schklowski, der talentierte russische Formalist, erkennt die immanenten Trugschlüsse der Erklärung von »Freiheit« durch den Kellerlochmenschen und deren autobiografischen Anstoß. In seinen Worten: »Der Erzähler kann nicht einmal zur Mauer gehen, um sein Glück zu versuchen und sie zu Fall zu bringen. So wird Schwäche zu seinem Vergnügen [ B’essilie stanowitse ewo razlečeniem ].« Anders als Schestow greift Schklowski auch auf den zweiten Teil zurück und bemerkt, dass »die Mauer in der Person des Offiziers verkörpert ist, der alles beiseite schiebt, was ihm im Weg steht. […] Der Erzähler kann nicht leben, weil er von Mauern dieser Art umgeben ist. […] Der gut gekleidete, gesellschaftlich erfolgreiche Mann stellt für den Bewohner des Kellerlochs bereits eine Mauer dar.« [17] Schklowskis Ansatz kommt meinem eigenen nahe, da er die Einheit der Erzählung und die Wechselwirkung ihrer Teile betont. Tatsächlich ist die »Mauer«-Passage am Anfang der Erzählung nur eine Umformulierung und Rationalisierung der ressentierenden Frustrationen und Schwächen und der Untätigkeit im zweiten Teil. Denn dort erzählt er die ihn ärgernde Wahrheit, dass nämlich »normale« Typen wie Swerkow und der Offizier aus dem schäbigen Restaurant ihn durch ihr Selbstvertrauen und ihre Popularität »gekränkt« haben.
    Inmitten des irreführenden Narrativs im ersten Teil steht Kapitel 5 als eine kleine

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