Reckless - Lebendige Schatten
Valiants Schimpfen und ging auf den Zaun zu, hinter dem die Ruinen lagen. Die Tote Stadt. Kein Ort, den er je aus der Nähe hatte sehen wollen. Selbst Chanute hatte sich davon ferngehalten. Jacob glaubte, Stimmen zu hören, irgendeinen Singsang, der von heiseren Schreien unterbrochen wurde. Vielleicht spürten die Verrückten, die zwischen den Ruinen lebten, dass dies eine besondere Nacht werden konnte. Angeblich reichte es, die verfallenen Mauern zu berühren, um demselben Wahnsinn zu verfallen. Jacob suchte mit den Augen einen Weg durch die toten Straßen, die den Berg hinaufführten. Die Stadt hatte Tausende von Einwohnern gehabt. Er sah Treppen und Brücken, zerfallene Kirchen, Häuser und Türme, deren leere Fensterhöhlen Irrlichter säumten, und eingestürzte Paläste, an deren Mauern die Nester von Pestfinken klebten, den einzigen Vögeln, die an Orten wie diesem sehr gut gediehen. Falls das Schloss tatsächlich erschien, würde es ein langer Weg werden, und Jacob spürte mit jedem Atemzug, wie ihm das Leben abhandenkam.
»Ich höre, der Goyl lebt noch?« Valiant trat an seine Seite. »Warum hast du ihn nicht erschossen? Konkurrenz belebt das Geschäft?«
»Ich bin mit dem Erschießen nicht so schnell zur Hand wie du, erinnerst du dich?« Jacob blickte sich zu dem Wachturm um.
Fuchs stand wartend neben der Tür.
»Du hast den Leichnam schon herbringen lassen?«
»Allerdings.« Valiant stieß einen mitleiderheischenden Seufzer aus. »Ich hoffe, du machst dir eine Vorstellung, wie schwierig das war! Ich musste den Rieslingswächter in der Gruft mit einem Jahresvorrat von Elfenstaub bestechen und die anderen zwei anheuern, um den Sarg herzubringen. Ich musste vor dem Zwergenrat eine schauspielerische Meisterleistung abliefern, um sie davon zu überzeugen, dass ich über das Verschwinden der Leiche ebenso empört bin wie sie, und meine anderen Geschäfte vernachlässigen, um herzukommen. Ich will diese Armbrust! Und ich will ein Vermögen an ihr verdienen! Ich plane, persönlich nach Albion zu reisen, sobald du sie hast, schließlich ist Wilfred das Walross unser wahrscheinlichster Käufer, denkst du nicht?«
»Sicher«, antwortete Jacob.
Er war nur froh, dass Valiant nichts von seinem Versprechen an Robert Dunbar wusste. Falls die Armbrust ihm tatsächlich das Leben rettete, würde er wohl aufpassen müssen, dass der Zwerg ihn nicht erschoss.
Das Innere des Wachturms war leer, bis auf ein paar verrostete Lanzen und die Überreste einer Ziege, die zwischen seinen Mauern verendet war. Die Leiche des Hexenschlächters lag in einem der schlichten Holzsärge, in denen die Zwerge verunglückte Minenarbeiter begruben.
Fuchs half Jacob, den Deckel abzuheben.
In dem einfachen Sarg sah das Gewand des kopflosen Toten noch kostbarer aus.
Fuchs sah ihn an.
Es war eine lange Jagd gewesen. Aber sie waren gemeinsam bis hierher gekommen. Wie sie es einander in Valiants Burg versprochen hatten. Seit mehr als sechs Jahren bestimmte dieses Gemeinsam nicht nur sein, sondern auch ihr Leben. Aus dieser Zeit gab es kaum Erinnerungen, die Fuchs nicht mit ihm teilte. Sein zweiter Schatten … inzwischen war sie so viel mehr als das. Nichts hatte ihm das je deutlicher gezeigt als die letzten Monate. Sie war ein Teil von ihm, untrennbar verbunden. Kopf, Hand und Herz.
»Worauf wartest du?« Valiant stand vor Ungeduld auf den Spitzen seiner maßgeschusterten Stiefel. Sie hatten nicht nur hohe Absätze. Auch die Sohlen machten ihn größer. Zwergenschuster waren sehr geschickt darin, ihren Kunden ein paar zusätzliche Zentimeter zu verschaffen.
Jacob zog zuerst den Beutel mit der Hand aus der Tasche. Wie bei dem Kopf spürte er kaum etwas, als er die tote Haut berührte, und für einen Augenblick hatte er Sorge, dass Guismunds Zauber nach so vielen Jahrhunderten wirkungslos geworden war. Du wirst es bald wissen, Jacob. Die Fingernägel zeigten Reste von Gold, aber sie waren nicht verschimmelt, wie man es sonst bei Hexerhänden sah. Vielleicht hatte Guismund einen Weg gefunden, sich vor dieser Nebenwirkung zu schützen. Die regelmäßige Einnahme von Hexenblut hatte furchtbare Folgen. Es griff das Gehirn an und rief starke Halluzinationen hervor. Alle Hexer wurden irgendwann wahnsinnig. Guismund hatte, wenn man den Archiven von Vena glaubte, schon Jahre vor seinem Tod selbst seinen ergebensten Rittern nicht mehr getraut und wahllos Feinde und Freunde hingerichtet, indem er sie in goldenen Käfigen an den Mauern seines Schlosses
Weitere Kostenlose Bücher