Reckless - Lebendige Schatten
Käfig einer Hexe erklärt hatten. Es war seltsam, wie sehr die Aussicht auf den eigenen Tod die Vergangenheit zurückbrachte – als wäre plötzlich jeder gelebte Augenblick präsent und flüsterte: Vielleicht ist das alles, was du bekommst, Jacob.
Die Tür des Aufzugs klemmte immer noch, wenn man sie aufstieß.
Siebter Stock.
Will hatte an der Wohnungstür eine Nachricht für ihn hinterlassen. Sind einkaufen. Essen im Kühlschrank. Willkommen zu Hause! Will
Jacob schob den Zettel in die Manteltasche, bevor er die Tür aufschloss. Er hatte mit seinem Leben für dieses Willkommen bezahlt, aber er hätte es noch einmal getan, für das Gefühl, wieder einen Bruder zu haben. Sie waren sich nicht mehr so nahe gewesen, seit Will jede Nacht zu ihm ins Bett gekrochen und ihm noch geglaubt hatte, dass Portiers manchmal Menschenfleisch fraßen. Liebe ging furchtbar leicht verloren.
Die Dunkelheit, die Jacob hinter der Tür erwartete, war fremd und vertraut zugleich. Will hatte den Flur gestrichen und der Geruch der frischen Farbe mischte sich mit dem ihrer Kindheit. Seine Finger fanden den Lichtschalter immer noch blind. Die Lampe war neu, genau wie die Kommode neben der Tür. Die alten Familienfotos waren verschwunden, und die verblichene Tapete, auf der man auch nach Jahren noch hatte erkennen können, wo das Foto ihres Vaters gehangen hatte, war weißer Farbe gewichen.
Jacob stellte die Tasche auf das ausgetretene Parkett.
Willkommen zu Hause.
Konnte es das wirklich wieder sein, nach all den Jahren, in denen alles, was er hier hatte finden wollen, der Spiegel gewesen war? Auf der Kommode stand eine Vase mit gelben Rosen. Claras Handschrift. Die Aussicht, sie wiederzusehen, hatte ihn etwas nervös gemacht, bevor er durch den Spiegel gekommen war. Er war sich nicht sicher gewesen, ob sein Herz nur der Erinnerung wegen schneller klopfte, oder weil das Lerchenwasser immer noch wirkte. Aber es war alles gut. Es war gut, sie mit Will zu sehen, in dieser Welt, in die er selbst schon seit so langer Zeit nicht mehr gehörte. Offenbar hatte sie Will nichts von dem Lerchenwasser erzählt. Aber Jacob spürte, wie die Erinnerung daran sie beide verband, als wären sie im Wald verloren gegangen und hätten gemeinsam zurückgefunden.
Das Zimmer ihrer Mutter hatte Will bislang ebenso wenig verändert wie das Arbeitszimmer ihres Vaters. Jacob öffnete die Tür nur zögernd. Neben dem Bett standen ein paar Kisten mit Wills Büchern und unter dem Fenster lehnten die Familienfotos, die im Flur gehangen hatten.
Das Zimmer roch immer noch nach ihr. Die Patchworkdecke auf dem Bett hatte sie selbst genäht. Die Stoffflicken waren überall in der Wohnung zu finden gewesen. Blüten, Tiere, Häuser, Schiffe, Mond und Sterne. Was immer die Decke über seine Mutter erzählte, Jacob hatte es nie enträtseln können. Sie hatten oft zu dritt darauf gelegen, wenn sie ihnen vorgelesen hatte. Ihr Großvater hatte ihnen die Märchen erzählt, mit denen er in Europa aufgewachsen war, bevölkert von den Hexen und Feen, deren Verwandte Jacob hinter dem Spiegel begegnet waren, aber die Geschichten ihrer Mutter waren die Amerikas gewesen. Der Kopflose Reiter, Johnny Appleseed, der Wolfsbruder, die Zauberfrau und der Seneca-Riese. Ihre Spuren hatte Jacob noch nicht hinter dem Spiegel entdeckt, doch er war sicher, dass sie dort ebenso existierten wie die Märchenfiguren seines Großvaters.
Auf dem Nachttisch seiner Mutter stand ein Foto, das sie mit ihm und Will unten im Park zeigte. Sie sah sehr glücklich darauf aus. Und so jung. Sein Vater hatte das Foto gemacht. Zu der Zeit hatte er wahrscheinlich schon von dem Spiegel gewusst.
Jacob wischte den Staub von dem Glas. So jung. Und so schön. Was hatte sein Vater gesucht, das er bei ihr nicht hatte finden können? Wie oft hatte er sich das als Kind gefragt. Er war so sicher gewesen, dass sie irgendetwas falsch gemacht haben musste – und so zornig auf sie. Zornig auf ihre Schwäche. Zornig, dass sie nicht aufhören konnte, seinen Vater zu lieben, und auf ihn wartete, wider besseres Wissen. Oder hatte sie vielleicht darauf gewartet, dass ihr ältester Sohn ihn eines Tages finden und zu ihr zurückbringen würde? Hatte er sich das nicht all die Jahre insgeheim ausgemalt? Dass er eines Tages mit seinem Vater zurückkehren und seiner Mutter all die Traurigkeit vom Gesicht wischen würde?
Hinter dem Spiegel gab es Stundengläser, die die Zeit anhielten. Jacob hatte lange für die Kaiserin nach einem
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