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Reckless - Lebendige Schatten

Reckless - Lebendige Schatten

Titel: Reckless - Lebendige Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Funke
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fand er Schmerzensschreie nicht sonderlich unterhaltsam.
    Außerdem hatte Louis inzwischen sicher eine Jungfrau gefunden.

27
EIN HAUS AM DORFRAND
    D as Haus sah noch schäbiger aus als in ihrer Erinnerung. Steinmauern, in denen der Schimmel nistete. Der Geruch von faulendem Stroh und Schweinemist … Die Fischerei machte einige Männer an dieser Küste reich, aber ihr Vater hatte sein Geld schon immer lieber in Wirtshäuser statt nach Hause getragen. Vater. Warum nennst du ihn immer noch so, Fuchs? Sie war drei Jahre alt gewesen, als ihre Mutter ihn geheiratet hatte. Zwei Jahre und zwei Monate nach dem Tod ihres leiblichen Vaters.
    Von dem Apfelbaum hinter dem Tor, auf den sie als Kind so oft geklettert war, weil die Welt weniger Angst machte, wenn man sie von oben sah, stand nur noch ein Stumpf. Der Anblick ließ sie fast das Pferd wenden, aber ihre Mutter hatte vor dem Haus wie jeden Frühling Primeln gepflanzt. Die blassgelben Blüten erinnerten Fuchs an all die guten Dinge, die sie dank ihr hinter den schäbigen Mauern erlebt hatte. Dass etwas so Zerbrechliches wie eine Blume dem Wind und der Welt trotzen konnte, hatte sie als Kind immer wieder erstaunt. Vielleicht hatte ihre Mutter die Primeln gepflanzt, um sie und ihre Brüder genau das zu lehren.
    Fuchs strich über den Strauß, der an ihrem Sattel steckte. Die Blumen waren längst verwelkt, aber das machte sie nicht weniger schön. Jacob hatte sie ihr geschenkt. Die vertrockneten Blüten gaben ihr für einen Moment das Gefühl, dass er bei ihr war. Ihre zwei Leben, verbunden durch dieselbe Blume.
    Das Tor stand offen, wie damals, als sie sie fortgejagt hatten. Ihre zwei älteren Brüder und ihr Stiefvater. Sie hatten versucht, ihr das Fellkleid wegzunehmen. Fuchs hatte es ihnen aus den Händen gerissen und war gerannt. Die Blutergüsse von den Steinen, die sie ihr nachgeworfen hatten, waren selbst unter dem Fell noch Wochen spürbar gewesen. Ihr jüngster Bruder hatte sich im Haus versteckt, zusammen mit ihrer Mutter. Sie hatte durchs Fenster gestarrt, als wollte sie sie mit ihren Augen festhalten, aber beschützt hatte sie ihre Tochter nicht. Wie auch? Sie konnte nicht einmal sich selbst beschützen.
    Während Fuchs auf die Tür zuging, glaubte sie, ihr jüngeres Ich über den Hof laufen zu sehen, das rote Haar zu Zöpfen geflochten, mit immer aufgeschlagenen Knien. Celeste, wo warst du schon wieder?
    Sie war mit Jacob in Menschenfresserhöhlen und den Ofenzimmern schwarzer Hexen gewesen, doch keinen Ort hatte sie je so sehr hinter sich lassen wollen wie diesen. Nicht einmal die Liebe zu ihrer Mutter hatte sie zurückbringen können. Es war die zu Jacob, die sie herbrachte.
    Nun klopf schon, Celeste . Sie werden nicht hier sein. Nicht um diese Zeit.
    Die Vergangenheit sprang sie an, sobald ihre Hand das Türholz berührte. Sie fraß all die Zuversicht und Stärke, die ihr das Fell und die Jahre fern von hier gegeben hatten. Jacob! Fuchs rief sich sein Gesicht ins Gedächtnis, damit es sie an die Gegenwart erinnerte und an die Fuchs, die sie geworden war.
    »Wer ist da?« Die Stimme ihrer Mutter. Die Vergangenheit ist so ein riesiges Tier. Die leisen Lieder, die sie ihr vorm Einschlafen gesungen hatte … Ihre Finger in ihrem Haar, wenn sie es geflochten hatte … Wer ist da? Ja, wer?
    »Ich bin es. Celeste.«
    Der Name schmeckte nach dem Honig, den Fuchs als Kind den wilden Bienen gestohlen hatte, und nach den Nesseln, die ihr die nackten Beine verbrannt hatten.
    Stille. Stand ihre Mutter hinter der Tür und hörte die Steine aufschlagen? Auf dem Hof und auf ihrer Haut? Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bevor sie den Riegel zurückschob.
    Sie war alt geworden. Das lange schwarze Haar war grau und ihre Schönheit fast verschwunden, als hätte jedes Jahr sie ihr etwas mehr vom Gesicht gewaschen.
    »Celeste …« Sie sprach den Namen aus, als hätte er all die Jahre auf ihren Lippen gewartet, wie ein Schmetterling, den sie nicht fortgescheucht hatte. Sie griff nach ihren Händen, bevor Fuchs zurückweichen konnte. Strich ihr übers Haar und küsste ihr Gesicht. Wieder und wieder. Sie hielt sie fest, als wollte sie all die Jahre zurückholen, in denen sie sie nicht gehalten hatte. Dann zog sie sie ins Haus. Sie schob den Riegel vor. Sie wussten beide, weshalb.
    Das Haus roch immer noch nach Fisch und feuchten Wintern. Derselbe Tisch. Dieselben Stühle. Dieselbe Bank am Ofen. Und vor dem Fenster nichts als Wiesen und gescheckte Kühe, als wäre die Zeit

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