Reckless - Lebendige Schatten
stehen geblieben. Aber Fuchs war an vielen unbewohnten Häusern vorbeigeritten. Es war ein hartes Leben, wenn man darauf angewiesen war, dass das Land und das Meer einen ernährten. Das lärmende Versprechen der Maschinen war so verlockend: dass alles sich durch Menschenhand machen ließ und man den Wind und den Winter nicht mehr fürchten musste. Aber der Wind und der Winter hatten die Menschen gemacht.
Fuchs griff nach der Schüssel Suppe, die ihre Mutter ihr hinschob.
»Es geht dir gut.« Es war keine Frage. Es klang Erleichterung aus ihrer Stimme. Erleichterung. Schuld. Und so viel hilflose Liebe. Aber das reichte nicht.
»Ich brauche den Ring.«
Ihre Mutter stellte den Milchkrug ab, mit dem sie ihr einen Becher gefüllt hatte.
»Du hast ihn noch, oder?«
Ihre Mutter antwortete nicht.
»Bitte! Ich brauche ihn.«
»Er hätte nicht gewollt, dass ich ihn dir gebe.« Sie schob ihr die Milch hin. »Du weißt nicht, wie viele Jahre du noch hast!«
»Ich bin jung.«
»Das war er auch.«
»Aber du bist noch am Leben, und das ist alles, was er wollte.«
Ihre Mutter setzte sich auf einen der Stühle, auf denen sie so viele Stunden ihres Lebens verbracht hatte, Kleider flickend, Kinder wiegend …
»Also liebst du jemanden. Wie ist sein Name?«
Aber Fuchs wollte Jacobs Namen nicht aussprechen. Nicht in diesem Haus. »Ich schulde ihm mein Leben. Das ist alles.« Das war es nicht, aber ihre Mutter würde es nicht verstehen.
Sie strich sich das graue Haar aus dem Gesicht. »Bitte mich um etwas anderes.«
»Nein. Und du weißt, du schuldest mir etwas.« Die Worte waren heraus, bevor Fuchs sie zurückhalten konnte.
Der Schmerz auf dem müden Gesicht ließ sie all den Zorn vergessen, den sie empfand. Ihre Mutter stand auf.
»Ich hätte dir die Geschichte nie erzählen sollen.« Sie strich das Tischtuch glatt. »Ich wollte nur, dass du weißt, was für ein Mann dein Vater war.«
Sie strich erneut über das Tischtuch, als könnte sie fortwischen, was das Leben schwer machte. Dann ging sie zögernd auf die Truhe zu, in der sie das wenige aufbewahrte, was sie ihr Eigen nannte. Die Holzschachtel, die sie herausnahm, war mit schwarzer Spitze bezogen. Es war Spitze von dem Kleid, das sie aus Trauer zwei Jahre lang getragen hatte.
»Vielleicht hätte ich das Fieber auch überlebt, wenn er ihn mir nicht an den Finger gesteckt hätte«, sagte sie, während sie die Schachtel öffnete.
Der Ring, der darin lag, war aus Glas.
»Das, wofür ich ihn brauche, ist schlimmer als ein Fieber«, sagte Fuchs. »Aber ich verspreche dir, ich werde ihn nur benutzen, wenn es keinen anderen Weg gibt.«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf und schloss die Finger fest um die Schachtel. Aber plötzlich lauschte sie nach draußen.
Schritte und Stimmen. Manchmal kamen die Männer früher vom Fischen zurück, weil das Meer zu rau war.
Ihre Mutter blickte zur Tür. Fuchs nahm ihr die Schachtel aus der Hand. Sie schämte sich für die Angst, die sie auf dem Gesicht ihrer Mutter sah. Aber es war nicht nur Angst, es war auch Liebe. Es war immer auch Liebe, selbst zu dem Mann, der ihre Kinder schlug.
Fuchs schob den Riegel zurück, als er gegen die Tür klopfte. Sie wünschte sich die Zähne der Füchsin, aber sie wollte ihrem Stiefvater in die Augen sehen können. Als er sie fortgejagt hatte, hatte sie ihm kaum bis zur Schulter gereicht.
Er war nicht so groß, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Weil du kleiner warst, Celeste. So klein … Er war ein Riese gewesen und sie die Zwergin. Der Riese, der alles zerschlug, was ihm in den Weg kam. Aber nun war sie so groß wie er und er war alt geworden. Sein Gesicht war wie immer rot, vom Wein, von der Sonne und vom Zorn. Zorn auf alles, was sich regte.
Es dauerte einen Moment, bis er begriff, wen er vor sich hatte.
Er wich zurück wie vor einer Schlange, und seine Hand schloss sich fest um den Stock, auf den er sich stützte. Er hatte immer Stöcke griffbereit. Stöcke, Gürtel … Er hatte mit Stiefeln und Holzscheiten nach Fuchs und seinen Söhnen geworfen, als wären sie Ratten, die sich hinter seinem Ofen versteckt hatten.
»Was tust du hier?«, fuhr er sie an. »Verschwinde!«
Er wollte sie packen, so, wie er es früher getan hatte, aber Fuchs stieß ihn zurück und schlug ihm den Stock aus der Hand.
»Lass sie vorbei.« Die Stimme ihrer Mutter zitterte, aber immerhin sagte sie diesmal etwas.
»Geh mir aus dem Weg«, sagte Fuchs zu dem Mann, den sie hatte Vater nennen müssen, obwohl er
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