Red Rabbit: Roman
Gewissen gehabt. Ob es sich schon in frühester Kindheit oder in den katholischen Schulen gebildet hatte, wusste er nicht zu sagen. Vielleicht war es ja auch Teil seiner Erbanlagen. Er wusste jedenfalls, dass es selten gut war, gegen die Regeln zu verstoßen. Doch andererseits hatte er auch erkannt, dass die Regeln ein Produkt der Vernunft waren, und die Vernunft stand an erster Stelle, und deshalb durfte man gegen die Regeln verstoßen, wenn man dafür einen triftigen – einen verdammt
triftigen – Grund hatte. Das nannte man dann Urteilsfähigkeit, und seltsamerweise war diese spezielle Blüte ausgerechnet bei den Marines gehegt und gepflegt worden. Man verschaffte sich ein Bild von der Lage und wägte die Möglichkeiten zu handeln ab, und dann handelte man. Manchmal musste man das in großer Eile tun. Das war der Grund, warum Offiziere mehr Sold bekamen als Unteroffiziere – obwohl man immer gut beraten war, auf seinen Gunnery Sergeant zu hören, wenn man noch Zeit dazu hatte.
Aber im Moment verfügte Ryan weder über einen Gunnery Sergeant noch über viel Zeit, und das war nicht sehr erfreulich. Erfreulich nur, dass keine konkrete, unmittelbare Bedrohung in Sicht war. Allerdings befand er sich jetzt in einem Umfeld, in dem Bedrohungen nicht immer ohne weiteres erkennbar waren, und seine Aufgabe bestand darin, diese aufzuspüren, indem er alle verfügbaren Informationen zusammenzusetzen versuchte. Davon hatte er jedoch im Moment noch nicht allzu viele. Nur eine Idee, die er aus der Sicht von Leuten durchspielen musste, die er nicht kannte und nie anders kennen lernen würde als aus schriftlichen Dokumenten, die wiederum von Leuten verfasst worden waren, die er ebenfalls nicht kannte. Ryan kam sich beinahe vor wie der Navigator auf einem Schiff von Christoph Kolumbus’ kleiner Flotte: Er nahm an, dass da vorne irgendwo Land auftauchen konnte, aber er wusste nicht, wo und wann er darauf stoßen würde. Ihm blieb nur zu hoffen, dass es nicht nachts oder bei Sturm dazu käme und dass sich dieses Land nicht in Gestalt eines Riffs bemerkbar machte, das ihm den Bauch seines Schiffes aufreißen würde. Sein eigenes Leben befand sich zwar nicht in Gefahr, aber genauso, wie er sich seinem Berufsethos verpflichtet gefühlt und das Geld seiner Klienten wie sein eigenes verwaltet hatte, musste er dem Leben eines potenziell gefährdeten Mitarbeiters dieselbe Bedeutung beimessen wie dem Leben seines eigenen Kindes.
Und davon kam dieses Jucken. Er konnte Admiral Greer anrufen, dachte Ryan, aber in Washington war es noch nicht einmal sieben Uhr morgens, und er tat seinem Chef keinen Gefallen, wenn er ihn mit dem Trillern seiner privaten STU weckte. Zumal er ihm nichts mitzuteilen, sondern nur ein paar Fragen zu stellen hatte. Deshalb lehnte sich Jack in seinen Stuhl zurück und starrte auf den grünen Bildschirm seines Apple-Monitors, auf der Suche nach etwas, was schlicht und einfach nicht da war.
17. Kapitel
DIE BLITZNACHRICHT
In seinem Büro schrieb Ed Foley:
PRIORITÄT: BLITZ
AN: DDO/CIA
VERTEILER: DCI, DDI
VON: COS MOSKAU
BETREFF: RABBIT
TEXT:
WIR HABEN EIN RABBIT IN HOHER POSITION, JEMANDEN MIT ZUGRIFF, ANGEBLICH FERNMELDEOFFIZIER IN KGB-ZENTRALE MIT INFORMATIONEN VON INTERESSE FÜR USG. EINSCHÄTZUNG: ER IST GLAUBWÜRDIG. 5/5.
BITTE DRINGEND UM VOLLMACHT FÜR UMGEHENDE EXFILTRA-TION AUS ROTLAND. PAKET ENTHÄLT RABBIT-FRAU UND TOCHTER (3).
BITTE UM 5/5 PRIORITÄT.
ENDE
So, dachte Foley, das ist knapp genug. Je kürzer so eine Nachricht war, umso besser – das gab der Gegenseite für den Fall, dass die Nachricht ihr in die Hände fiel, weniger Gelegenheit, am Text zu arbeiten und den Code zu knacken.
Aber die einzigen Hände, in die dieser Text gelangen würde, waren die der CIA. Ed maß dem Ganzen enorme Bedeutung bei. Die Einstufung 5/5 bedeutete, dass er sowohl die Wichtigkeit und Zuverlässigkeit der Information als auch die Priorität der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen mit fünf bewertete, der Höchstnote.
Die gleiche Note gab er der Zuverlässigkeit des Subjekts. Vier Asse – also nicht die Sorte Nachricht, wie man sie jeden Tag rausschickte. So würde er ansonsten bestenfalls eine Nachricht von Oleg Penkowski oder von KARDINAL einstufen. Viel heißer kamen die Eisen also nicht aus dem Feuer. Er überlegte kurz, ob er die Situation richtig einschätzte, aber im Lauf der Zeit hatte Ed Foley gelernt, seinem Riecher zu vertrauen. Außerdem hatte er jeden einzelnen Punkt ausführlich mit
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