Red Rabbit: Roman
keine Regel ohne Ausnahme. Dieser Mann hatte offensichtlich ein Gewissen und fühlte sich verpflichtet, etwas zu unternehmen, um etwas anderes … zu verhindern. Was genau, wusste Jack nicht, und er wollte keine falschen Schlüsse ziehen. Eine Analyse durfte nicht auf Spekulationen beruhen.
Sicher würde es interessant sein zu erfahren, was Iwan Rabbit zu diesem Schritt bewogen hatte. Ryan hatte noch nie direkt mit einem Überläufer gesprochen. Er hatte ihre Aussagen gelesen und einigen
von ihnen in Briefen Fragen gestellt, um bestimmte Dinge besser nachvollziehen zu können, aber er hatte nie einem in die Augen gesehen und sein Gesicht beobachtet, wenn er antwortete. Dabei war es wie beim Pokern – nur am Gesichtsausdruck des Gegenübers konnte man ablesen, was er wirklich dachte oder vorhatte. Jack war darin zwar nicht so gut wie seine Frau – vielleicht lernte man das in ihrem Beruf –, aber er war auch kein Dreijähriger, dem man ein X für ein U vormachen konnte. Nein, diesen Kerl wollte er sehen, mit ihm reden und sein Gehirn auseinander nehmen, um seine Glaubwürdigkeit zu prüfen. Schließlich konnte das Rabbit auch ein Maulwurf sein. Dem KGB war es schon einmal gelungen, einen Agenten einzuschleusen, wie Ryan wusste. Nach dem Attentat auf John F. Kennedy hatte es einen Überläufer gegeben, der steif und fest behauptete, der KGB habe dabei nicht die Finger im Spiel gehabt. Jedenfalls so nachdrücklich, dass sich die Agency fragte, ob das nicht vielleicht sogar stimmte. Der KGB konnte wirklich sehr clever sein, aber wie auch alle cleveren, raffinierten Einzelpersonen pokerte auch er früher oder später einmal zu hoch – und je später dies geschah, desto mehr verlor er. Der KGB kannte den Westen und wusste, wie die Menschen dort dachten. Nein, der Iwan war kein übermächtiger Riese, und er war auch kein Genie, egal was die Panikmacher in Washington – und selbst einige in Langley – dachten und sagten.
Niemand war vor Fehlern gefeit. Das hatte Jack von seinem Vater gelernt, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Mörder dingfest zu machen, von denen sich einige für äußerst gescheit hielten. Nein, der einzige Unterschied zwischen einem Weisen und einem Narren lag in der Größe seiner Fehler. Irren war menschlich, und je cleverer und mächtiger man war, desto größer die Bandbreite der möglichen Fehler, die einem unterlaufen konnten. Wie bei Lyndon B. Johnson und seinem Vietnamkrieg – jenem Krieg, in den Jack zum Glück nicht hatte ziehen müssen, weil er noch zu jung gewesen war. Dieser Krieg war ein kolossaler Fehler gewesen, der von dem besten Taktiker seiner Zeit angezettelt und auf Kosten des amerikanischen Volkes geführt wurde, von jenem Mann, der glaubte, seine politischen Fähigkeiten reichten aus, um in der internationalen Machtpolitik mitmischen zu können, nur um dann feststellen zu müssen, dass ein asiatischer Kommunist nicht in den gleichen
Bahnen dachte wie ein Senator aus Texas. Jeder Mensch stieß irgendwann an seine Grenzen. Nur waren einige gefährlicher als andere. Und während ein Weiser seine Grenzen kannte, war Dummheit grenzenlos.
Ryan lag im Bett, rauchte eine Zigarette, starrte an die Decke und fragte sich, was der nächste Tag wohl bringen mochte. Wieder solch ein Horrorszenario, wie es Sean Miller und seine Terroristen heraufbeschworen hatten?
Hoffentlich nicht, dachte Jack und fragte sich abermals, warum Hudson keine Waffen mitnehmen wollte. Das musste an der europäischen Mentalität liegen, entschied er. Amerikaner dagegen hatten auf feindlichem Territorium lieber einen guten Freund dabei.
27. Kapitel
RABBITS HAKEN
Nur noch ein Tag in dieser Stadt, dachte Zaitzew, als die Sonne – zwei Stunden früher als in Moskau – im Osten aufging. Zu Hause würde er noch schlafen. Oleg Iwan’tsch hoffte, dass er bald, sehr bald sogar in einer ganz anderen Zeitzone aufwachen würde. Doch nun lag er ruhig da und genoss den Augenblick. Von draußen war so gut wie kein Laut zu hören. Nur das leise Brummen der wenigen Lastwagen auf den Straßen drang ab und zu ins Zimmer. Die Sonne hatte den Horizont noch nicht erobert. Es war dunkel, aber nicht mehr tiefe Nacht. Es war ein friedvoller Augenblick, ein magischer Moment für Kinder. Die Welt gehörte jetzt den wenigen, die bereits erwacht waren, während die übrigen noch in ihren Betten lagen. Wie kleine Könige konnten die Kinder umherlaufen, bis ihre Mütter sie einfingen und wieder ins Bett
Weitere Kostenlose Bücher