Red Rabbit: Roman
ignoriert, und weil diese Theorie als ihre heilige Schrift unfehlbar ist, bleibt angeblich nur der eine Schluss, nämlich dass die menschliche Natur im Argen liegt. Was natürlich vollkommen unlogisch ist. Haben Sie sich schon einmal mit metaphysischen Fragen beschäftigt?«
»Im Boston College, zweites Jahr. Dieses Thema ist den Jesuiten mindestens ein Semester wert«, antwortete Ryan und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas.
»Nun, Kommunismus ist so etwas wie rigoros und ohne Rücksicht auf Verluste angewandte Metaphysik. Wenn sich die realen Verhältnisse sperren, ist das die Schuld der dummen eckigen Würfel, die einfach nicht in die schönen runden Löcher passen wollen. Schlecht für die Würfel. Josef Stalin hat sie niedergemacht, aus Gründen der politischen Theorie, und weil er einfach krank im Kopf war. Dieser Wahnsinnige hat den Begriff Paranoia neu definiert. Dafür, dass es sich von einem Wahnsinnigen nach verrückten Regeln hat beherrschen lassen, muss das Volk einen hohen Preis bezahlen.«
»Aber wie linientreu ist wohl die derzeitige Regierungsspitze?«
Nachdenklich wiegte Harding den Kopf hin und her. »Tja, das ist die Frage. Und wir haben darauf keine Antwort. Sie behaupten alle, fest zu ihrer kommunistischen Überzeugung zu stehen, aber tun sie das wirklich?« Harding stellte sein Glas ab. »Ich glaube, in dem Punkt lassen sich nicht alle über einen Kamm scheren. Suslow zum Beispiel ist noch ganz der alte Dogmatiker. Aber die anderen? Vielleicht der eine mehr, der andere weniger. Man kann sie wohl mit Gemeindegliedern vergleichen, die früher jeden Sonntag in die Kirche gegangen sind, aber inzwischen nur noch selten gehen. Manche glauben nach wie vor, aber den meisten ist, wenn überhaupt, nur ein Lippenbekenntnis zu entlocken. Wohl aber halten sie an ihrer Staatsreligion fest, denn nur durch sie legitimiert sich ja ihre Macht und ihr Status. Für das gemeine Volk sieht es so aus, als glaubten sie.«
»Intellektuelle Trägheit?«, fragte sich Ryan laut.
»Exakt. Newtons erstes Gesetz der Bewegung.«
Ryan wollte Widerspruch anmelden. Harding malte die Verhältnisse allzu schwarz. So sinnlos konnte das doch wohl nicht sein. Oder doch? Nach welcher Regelung sollte es sich anders verhalten? fragte er sich. Und wer setzte eine solche Regelung durch? Was Harding soeben mit rund zweihundert Wörtern umschrieben hatte, spielte sich als Rechtfertigung auf für Ausgaben in astronomischer Höhe, für eine gigantische Aufrüstung strategischer Waffen und für das Aufgebot mehrerer Millionen Soldaten, die gedrillt wurden, als bräche morgen der Krieg aus.
Aber die Welt war nicht zuletzt eine Welt konkurrierender Ideologien, und die Spannungen, die sich hier in der Sowjetunion daraus ergaben, definierten die Wirklichkeit, in der sich Ryan bewegte, denn sie erzeugten Hass und Aggression und richteten diese nicht zuletzt eben auch gegen ihn und seine Familie. Und das war als eine realistische Gefahr doch wohl sehr ernst zu nehmen, oder? Nein, es gab keine Vorschrift, wonach die Welt sinnvoll geordnet zu sein hatte. Über Sinn und Unsinn urteilte jeder anders. War also tatsächlich alles nur eine Frage des persönlichen Blickwinkels? Wille und Vorstellung? Was war Realität?
Diese Frage fiel in den Bereich der Metaphysik. Während seines Studiums am Boston College hatte der neunzehnjährige Ryan von diesem Fach nicht viel wissen wollen. Es war ihm viel zu abgehoben und weltfremd vorgekommen. Auch jetzt, dreizehn Jahre später, fiel es ihm immer noch schwer, den Stoff zu verdauen. Aber im Unterschied zum Collegestudium schlug sich die Leistung nun nicht bloß als Zeugnisnote nieder. Sie entschied vielmehr über Leben und Tod.
»Herrje, Simon! Es wäre doch alles viel einfacher, wenn sie an Gott glaubten.«
»Dann gäbe es Religionskriege, und die sind, wie wir aus der Geschichte wissen, nicht weniger blutig. Denken Sie nur an den Dreißigjährigen Krieg in Europa. Die Fundamentalisten in Moskau halten sich für die Speerspitze der Geschichte und sind überzeugt davon, den Menschen zur Vervollkommnung zu verhelfen. Es würde sie verrückt machen, eingestehen zu müssen, dass ein Großteil der Bevölkerung kaum genug zu essen hat oder gerade eben
über die Runden kommt. Also versuchen sie, die Augen davor zu verschließen. Aber das hilft natürlich nicht. Schon gar nicht dem, der Hunger schiebt. Also machen sie andere verantwortlich, vermeintliche Verräter und Saboteure, die sie dann ins
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