Red Rabbit: Roman
Toten.
Mary Pat konnte sich noch gut an die Tränen in den Augen ihres Großvaters erinnern, wenn er diese Geschichte erzählte, und diese Tränen hatten seinen tief sitzenden Hass auf die Bolschewiken auf sie übertragen. Inzwischen hatte dieser Hass etwas nachgelassen. Sie war keine Fanatikerin, aber wenn sie einen Russen in Uniform sah oder in einem vorbeirauschenden ZIL auf dem Weg zu einer Parteisitzung, sah sie das Gesicht des Feindes, eines Feindes, der unbedingt besiegt werden musste. Dass der Kommunismus der Feind ihres Landes war, war dabei schon fast von zweitrangiger Bedeutung. Sollte sie einen Knopf finden, der dieses verhasste politische System zu Fall brächte, würde sie ihn drücken, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Und deshalb war der Posten in Moskau der beste aller denkbaren Posten gewesen. Denn Wanja Borissowitsch Kaminski hatte ihr nicht nur seine alte, traurige Geschichte erzählt, sondern ihr auch eine Lebensaufgabe mit auf den Weg gegeben – und gleichzeitig die nötige Leidenschaft, sie zu erfüllen. Der Entschluss, für die CIA zu arbeiten, war etwas so Selbstverständliches gewesen wie das Ausbürsten ihrer honigblonden Haare.
Und jetzt, als sie hier spazieren ging, verstand sie die tiefe Liebe ihres Großvaters für diese vergangene Welt zum ersten Mal wirklich. Alles war anders als das, was sie aus Amerika kannte, von der Neigung der Hausdächer über die Farbe des Asphalts bis hin zu den ausdruckslosen Gesichtern der Menschen. Sie starrten sie im Vorbeigehen an, denn in ihren amerikanischen Kleidern stach sie heraus wie ein Pfau unter Krähen. Einige rangen sich sogar ein Lächeln für den kleinen Eddie ab, denn so griesgrämig die Russen auch sein mochten, zu Kindern waren sie immer nett. Spaßeshalber fragte Mary Pat einen Milizbeamten – so hießen hier die Polizisten – nach dem Weg, und er war sehr zuvorkommend, half ihr bei der richtigen Aussprache des Russischen und erklärte, wie sie gehen musste. Das war schon mal gut gewesen. Sie hatte einen Schatten, stellte sie fest, einen KGB-Beamten, etwa fünfunddreißig, der ihr in zirka fünfzig Meter Abstand folgte und sein Bestes tat, unsichtbar zu bleiben. Sein Fehler war, dass er wegsah, wenn sie sich umdrehte. Wahrscheinlich hatte er das sogar bei der Ausbildung
gelernt, damit sein Gesicht dem Observierungsobjekt nicht zu vertraut wurde.
Die Straßen und Gehsteige in Moskau waren breit, aber nicht besonders stark frequentiert. Die meisten Russen waren bei der Arbeit, und es gab kaum Frauen, die nicht berufstätig waren und stattdessen einkaufen gingen oder zu irgendwelchen gesellschaftlichen Anlässen oder zum Golfclub unterwegs waren – allerhöchstens die Frauen der wirklich wichtigen Parteimitglieder. Ein bisschen wie die untätigen Reichen zu Hause, dachte Mary Pat. Ihre Mutter hatte immer gearbeitet, zumindest in ihrer Erinnerung – und tat es eigentlich auch jetzt noch. Aber hier benutzten arbeitende Frauen Schaufeln, während die Männer Kipplaster fuhren. Sie besserten ständig Schlaglöcher aus, aber sie besserten sie nie gut genug aus. Genau wie in Washington und New York, dachte sie.
Dafür gab es hier Straßenverkäufer, die Eis anboten, und Mary Pat kaufte eines für den kleinen Eddie, der alles ringsum mit großen Augen aufnahm. Sie hatte leichte Gewissensbisse, ihrem Sohn diese Stadt und diese Mission aufzubürden, aber er war erst vier, und es würde eine lehrreiche Erfahrung für ihn werden. Wenigstens konnte er zweisprachig aufwachsen. Außerdem würde er sein Land besser zu schätzen lernen als die meisten amerikanischen Kinder, und schon allein das, fand Mary Pat, hatte sein Gutes. Sie hatte also einen Schatten. Wie gut war er? Vielleicht wurde es Zeit, das herauszufinden. Sie griff in ihre Handtasche und nahm unauffällig ein Stück Papierklebestreifen heraus. Es war rot, knallrot. Sie bog um eine Ecke, heftete es mit einer Geste, so beiläufig, dass sie praktisch nicht zu sehen war, an einen Laternenpfahl und ging weiter. Nach fünfzig Metern blieb sie stehen, blickte sich um, als hätte sie sich verlaufen – und sah den Mann an dem Laternenpfahl vorbeimarschieren. Demnach hatte er nicht gesehen, dass sie das Signal angebracht hatte. Hätte er es bemerkt, hätte er zumindest einen Blick darauf geworfen. Und er war der Einzige, der ihr folgte. Ihre Route war so willkürlich gewählt, dass ihr niemand anders zugeteilt worden sein dürfte, wenn sie nicht gerade besonders gründlich
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