Red Rabbit: Roman
Art gibt es Zeugen. Jeder Mensch hat zwei Augen und ein
Gedächtnis. Einige sind dazu auch noch intelligent. Alles das lässt sich nicht vorhersehen. Zum einen schreit so etwas geradezu nach einem Scharfschützen und einem Schuss aus großer Entfernung, zugleich würde eine solche Vorgehensweise aber auf eine von höchster staatlicher Stelle angeordnete Operation hindeuten. So ein Scharfschütze müsste bestens ausgebildet und entsprechend ausgerüstet sein. Das hieße: ein Soldat. Und ein Soldat hieße: Militär. Militär hieße: ein Nationalstaat – und welcher Nationalstaat könnte ein Interesse daran haben, den Papst zu ermorden?« Der Oberst machte eine kurze Pause. »Eine echte Geheimoperation darf nicht bis auf ihren Auftraggeber zurückzuverfolgen sein.«
Andropow zündete sich eine Zigarette an und nickte. Er hatte eine gute Wahl getroffen. Dieser Oberst war nicht auf den Kopf gefallen. »Fahren Sie fort.«
»Im Idealfall hätte der Schütze keinerlei Verbindungen zur Sowjetunion. Darauf müssten wir unbedingt achten, da wir die Möglichkeit seiner Festnahme nicht ausschließen können. Falls er festgenommen wird, wird er verhört werden. Die meisten Männer reden beim Verhör, sei es aus psychischen oder physischen Gründen.« Roschdestwenski griff in die Hosentasche und holte eine eigene Zigarette heraus. »Ich habe mal etwas über einen Mafiamord in Amerika gelesen …« Wieder wurde seine Stimme leiser, und sein Blick heftete sich auf die Rückwand des Zimmers.
»Ja?«, half ihm der KGB-Chef auf die Sprünge.
»Ein Auftragsmord in New York City. Irgendein Mafiaboss hatte sich mit ein paar anderen Unterweltgrößen überworfen, worauf diese beschlossen, ihn nicht nur umzubringen, sondern es zudem auf sehr erniedrigende Weise zu tun. Sie ließen ihn von einem Schwarzen ermorden. Für einen Mafioso ist das nämlich ganz besonders schmachvoll«, erklärte Roschdestwenski. »Aber auch der Attentäter selbst wurde unverzüglich von einem anderen Mann getötet, allem Anschein nach von einem Mafiakiller, der danach entkommen konnte – er hatte ohne jeden Zweifel Helfer, was nur beweist, dass das Ganze sorgfältig geplant war. Das Verbrechen wurde nie aufgeklärt. Es war eine technisch perfekte Übung. Das Ziel wurde genauso ausgeschaltet wie der Killer. Die wahren Mörder – die Leute, die den Anschlag geplant und angeordnet hatten – konnten ihren Plan erfolgreich durchführen, was
ihnen in ihrer Organisation zu einigem Prestigezuwachs verhalf, ohne dass sie jemals für die Tat belangt wurden.«
»Gangster«, schnaubte Andropow.
»Ja, Genosse Vorsitzender, aber dennoch verdient es eine ordentlich durchgeführte Operation, studiert zu werden. Sie lässt sich nicht uneingeschränkt auf unser Vorhaben übertragen, weil sie ja wie ein gut ausgeführter Mafiamord erscheinen sollte. Aber der Killer kam deshalb so nahe an sein Ziel heran, weil er eindeutig keiner Mafia-Gang angehörte, und nach vollbrachter Tat konnte er diejenigen, die ihn für den Anschlag bezahlt hatten, weder beschuldigen noch identifizieren. Genau das ist es, was auch wir erreichen müssten. Gewiss, wir können diese Operation nicht einfach kopieren – die Ermordung unseres Attentäters wäre zum Beispiel ein direkter Verweis auf uns. Das darf auf keinen Fall wie die Eliminierung Trotzkis durchgeführt werden. Damals sollte der Auftraggeber der Operation nicht wirklich geheim bleiben. Vielmehr sollte das Ganze wie im Fall des eben erwähnten Mafiamordes eine Art Statement darstellen.« Dass eine sowjetische Staatsaktion eine direkte Parallele zu dieser Beseitigung eines New Yorker Gangsters wäre, bedurfte nach Ansicht Roschdestwenskis keiner weiteren Erläuterung. Aber jemand wie er, der sich ständig mit der Planung von Operationen befasste, sah im Trotzki-Attentat und in dem Mafiamord in puncto Taktik und Ziel interessante Übereinstimmungen. »Genosse Vorsitzender, ich brauche etwas Zeit, um das in allen Einzelheiten zu durchdenken.«
»Sie bekommen zwei Stunden«, erklärte Andropow großzügig.
Roschdestwenski stand auf, nahm Habtachtstellung ein und ging dann durch die Garderobe ins Vorzimmer.
Roschdestwenskis eigenes Büro war sehr klein, aber es gehörte ganz allein ihm und befand sich auf derselben Etage wie das des KGB-Chefs. Ein Fenster öffnete sich auf den Lubjanka-Platz mit seinem starken Verkehr und der Statue des Eisernen Felix. Der Drehstuhl des Obersts war bequem, und auf dem Schreibtisch standen drei
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