- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
verbeugte er sich nur respektvoll und unternahm keinen Versuch, sich ihr zu nähern.
Er erkannte, dass Valerie für sich bleiben wollte.
Valerie spürte, dass ihrer Mutter missfiel, wie sie sich Henry gegenüber verhielt, und sie hätte ihm sein Kommen gern verübelt, aber sie merkte, dass sie es nicht konnte. Sie wusste, dass sich in seine Zuneigung nun Mitgefühl mischte. Sie blickte zu ihrem Vater, und als der nickte, zog sie sich auf den Dachboden zurück, in das Bett, das sie mit Lucie geteilt hatte.
Sie berührte sanft die Kornblumen, die Lucie aufgehängt hatte, um ihre Seite des Betts zu schmücken. In ihrer Trauer hatte Valerie das Gefühl, dass es ihr in ihrer Haut zu eng wurde. Dass sie nicht genug Luft bekam.
Madame Lazar hob eine Hand und rückte ihr graues Haar zurecht, während sie mit missbilligender Miene das Haus in Augenschein nahm. Sie war eine alte Frau, die vergessen hatte, wie es war, unter vielen Menschen zu sein –
was nicht weiter ins Gewicht fiel, da ihr starrer Blick den meisten ohnehin nicht geheuer war. Außerdem behagte ihnen nicht, wie sie roch. Nach Wäschestärke und Knoblauch.
»Mein Beileid«, sagte sie zu der seelisch gebrochenen und fassungslosen Suzette.
Adrien ging zu Cesaire und drückte ihm die Hand. Mit seinem herben Gesicht und seinen männlichen Falten sah er immer noch gut aus.
»Lucie war ein gutes Mädchen«, sagte er.
Die Vergangenheitsform wirkte wie ein Schock. Cesaire war nicht darauf gefasst. Er hatte die Angewohnheit, sein Getränk im Mund herumzuwälzen, wenn ihm etwas missfiel. Suzette, am anderen Ende des Raum, schüttelte den Kopf, und Cesaire wusste, was das bedeutete: schlucken.
Claude führte seinen Zaubertrick vor und ließ hinter Madame Lazars Ohr, entweder weil er sie einbeziehen wollte oder zu Bosheiten aufgelegt war, Tarotkarten verschwinden oder erscheinen. Sie scheuchte ihn weg.
Wieder schnellte eine Karte hervor.
Sie versuchte es mit einer anderen Taktik, hielt ihre Teetasse hoch und tat so, als sei er Luft.
Oben im Bett wandte sich Valerie von der Szene ab. Sie konnte Lucie riechen, den Geruch nach Hafer, nach warmer Milch, nach jemandem, dem sie vertrauen konnte. Sie wusste, dass dieser Geruch vergehen würde. Valerie zog einen Holzknorren aus der Decke. Dahinter verbarg sich ein Versteck, dem sie ein kleines samtenes Lavendelkissen entnahm.
Sie dachte an die Zeit, als ihre Mutter Lucie und sie immer auf lange Spaziergänge mitgenommen hatte. Dabei kamen sie an den Kornfeldern vorbei, auf denen sich dünne
Halme sanft im Wind wiegten. Später gelangten sie auf eine Waldwiese, die von Lavendel erstrahlte. Sie sammelten die Blüten, die Lucie in ihrem Rock trug, bis sie irgendwann wunde Finger bekam und weinend zu ihrer Mutter lief, die immer daran gedacht hatte, Salbe mitzunehmen.
Valerie spähte wieder ins Wohnzimmer hinunter. Sie fühlte sich wohl in ihrer gewohnten Position der Beobachterin, hoch oben, für sich. Stimmen wurden mal lauter, mal leiser. Gesichter erschienen und verschwanden wieder. Sie sah durch die Menschen hindurch und konnte nicht recht glauben, dass sie real waren. Die Dorfbewohner sprachen durcheinander, aber keiner sagte etwas. Valerie tauchte ein in das Gesumm, ließ sich im Strom der Stimmen treiben.
Der Leichnam ihrer Schwester lag reglos da wie ein Stück Mobiliar. Alle Leute, die einen Kondolenzbesuch abstatteten, schlichen um ihn herum und fühlten sich verpflichtet, ihn zu betrachten. Doch es war ihnen unangenehm, und sie beeilten sich, den Blick abzuwenden.
Suzette saß inzwischen auf einem Schemel am Feuer. Valerie bemerkte, dass sie Henry lange ansah. Seine Nähe machte ihre Mutter nervös. Manchmal hatte es den Anschein, als wollte sie ihn mehr für sich als für Valerie.
Valerie sank auf die Seite, und der Schlaf kam wie eine Welle, hob sie hoch und trug sie davon.
Als sie erwachte, erinnerte sie sich, wie Lucie einmal vor langer Zeit in der Abenddämmerung alleine nach Hause ging. Knurrend wie der Wolf schlich sie sich von hinten an sie an und erschreckte sie. Was für Eltern eine Frage von
Leben und Tod war für zwei kleine Mädchen nur ein Spiel gewesen. Lucie hatte geweint, und Valerie hatte sie getröstet, aber damals war ihr zu Bewusstsein gekommen, dass sie etwas Zerstörerisches, sogar Raubtierhaftes in sich hatte. Und nachdem sie miterlebt hatte, wie Flora geopfert wurde, hatte sie ihrer Schwester nie wieder Angst gemacht.
Sie quälte sich eine Weile mit dieser Erinnerung und rührte
Weitere Kostenlose Bücher