- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
auf der Eingangstreppe der lärmerfüllten Schenke, denn er wusste, dass er eigentlich nicht hineingehen durfte. Durch das Fenster sah er riesige Leuchter, in denen Kerzen groß wie Holzscheite steckten. Er sah die Tische, die von Holzdübeln zusammengehalten wurden und deren narbige Platten über Jahrzehnte mit Krügen malträtiert worden waren. Er konnte auch das Licht sehen, das durch die aufgehängten Weinkrüge schimmerte und runde rote Schatten auf die Tische darunter warf. Dunkelrote Schatten.
Er sah alles, aber er merkte, dass er kein Wort sagen konnte. Er trat ein, blieb gleich hinter der Tür stehen und wartete.
Marguerite, Claudes und Roxannes Mutter, war sehr beschäftigt und schleppte gerade zwei Tabletts, auf jedem Arm eines, wobei sie versuchte, ungehobelten Betrunkenen auszuweichen. Sie blieb nur kurz stehen, als sie an ihrem Sohn vorbeikam. »Ich habe zu tun.« Mit unwirscher Miene ließ sie ihn an der Tür stehen.
Der Lärm in der Schenke war ohrenbetäubend. Und da Claude befürchtete, dass niemand ihn hören würde, und sich nicht anders zu helfen wusste, brüllte er. Claude hatte
das Gesicht eines viel älteren Mannes, mit tiefen Falten, die von den Nasenlöchern zu den Mundwinkeln liefen. Und er hatte unreine Haut, was den Leuten missfiel, denn sie glaubten, dies sei das äußere Zeichen für eine unreine Seele. Niemand wollte ihm zuhören.
Marguerite eilte herbei, aufgeschreckt durch das Geschrei. »Was fällt dir ein?«, fragte sie barsch in die plötzliche Stille hinein.
Claude verstummte, atmete schwer und spürte, wie sein sommersprossiges Gesicht rot anlief. Im Glauben, er würde nun Ruhe geben, wandte sich Marguerite zum Gehen.
Claude riss heftig an ihrem Kleid.
» Verwünschter Bengel«, schimpfte sie.
In der Schenke kehrte betroffene Stille ein. Er war zu grob zu ihr gewesen. Claude stand wie gelähmt, bestürzt über sein eigenes Tun, allen Blicken preisgegeben. Doch irgendjemand kicherte in die Stille und löste kreischendes Gelächter aus. Claude spürte die Angst hinter ihrem Lachen. Seine eigene Mutter war misstrauisch gegen ihn und sah in ihm einen Fremden. Sie verstand nicht, wie sie zu einem solchen Sohn gekommen war. Er fragte sich, ob der Wolf sich vor ihm ebenso gefürchtet hätte wie die Leute aus dem Dorf.
Jetzt waren sie beide verlegen, er und Marguerite. Er wandte sich zum Gehen.
Er war erschöpft von der Anstrengung. Er war schon halb draußen, als er aber plötzlich wieder herumfuhr. Eigentlich wollte er rufen: »Lucie liegt zerfleischt im Weizenfeld.«
Doch alles, was er stotternd herausbrachte, war: »W—w— wolf.«
Jetzt hörten sie zu.
Wenig später schlug die Glocke.
Die Glocke schlug lauter, immer vier Mal, je näher Valerie dem Zug der Dorfbewohner kam. Sie rannte über die Wiesen, schlug Haken um die Heuschober von gestern.
»Glaubt dem Jungen nicht«, rief jemand.
»Natürlich nicht«, schrie ein anderer gegen den Lärm an, der sich über die gemähten Wiesen wälzte. »Wir alle wissen sehr gut, dass der Wolf seit zwanzig Jahren den Frieden nicht mehr gebrochen hat. Er hat wahrscheinlich nur einen wilden Hund gesehen und den Kopf verloren.«
Kinder zerrten an den Armen ihrer Mütter und trieben sie zur Eile. Sie wollten sehen, was der Grund für die Aufregung war. Sie fürchteten, etwas zu verpassen, auch wenn sie nicht wussten, was.
Valerie ahnte, wo sie hinwollten, und rannten voraus. Mitten auf den Feldern angekommen, sah sie, dass bereits etliche Dorfbewohner da waren und in Gruppen beisammen standen. Bei ihrem Erscheinen verstummten sie betreten. Hinter ihnen war eine Frau zu hören, die sich schnäuzte und weinte. Die vielen grauen und braunen Mäntel versperrten Valerie die Sicht, doch dann entdeckte sie Roxanne, Prudence und Rose, die sich in den Armen lagen und gegenseitig festhielten.
» Wer ist es?«, fragte Valerie.
Sie wandten sich ihr zu, ohne sich aus ihrer Umarmung zu lösen.
Keine brachte es über die Lippen.
Die Menge wich zurück, sodass Valerie ihre Eltern sehen konnte, die allein dort standen. Sie wusste es, noch bevor Roxanne es sagte.
»Deine Schwester.«
Valerie stürzte los, warf sich vor Lucies reglosem Körper zu Boden und griff verzweifelt in loses Gras. Sie brachte es nicht fertig, ihre Schwester zu berühren.
Lucie trug ihr bestes Kleid, doch der Stoff war zerfetzt und bedeckte ihren Körper nur noch unzureichend. Ihr Haar, ein gewöhnlicher Viererzopf, gestern Abend noch so sorgfältig geflochten, war
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