- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
antwortete nicht. Sie dachte an die Papierschnitzel, die sie in Lucies Hand gefunden hatte, aber die Schnitzel passten nicht zusammen und der Tau hatte die Tinte verlaufen lassen. Es musste ein Brief gewesen sein, aber was hatte darin gestanden? War es eine Einladung, aufs Feld zu kommen? Und wenn ja, von wem? Die Welt wirbelte um sie herum, und sie konnte sich nicht auf Madame Lazars Gesicht konzentrieren – alle huschten an ihr vorbei wie Karussellpferde, die sich im Kreis drehten.
»Die Bestie hat ihr aufgelauert«, sagte Suzette, der bei dem Thema unbehaglich wurde, verzweifelt.
»Sie war doch mit euch zusammen«, sagte Roxanne zu Prudence. »Ich weiß genau, dass ich sie in eurem Boot gesehen habe.«
»Ja, sie war bei mir im Boot, und dann hat sie gesagt, sie wollte sich mit euch treffen.«
»Ich verstehe einfach nicht, wieso sie das gesagt hat. Es stimmt nicht.« Roxanne schüttelte den Kopf.
»Vielleicht war sie mit einem Jungen verabredet«, bemerkte Prudence mit falscher Stimme.
»Meine Tochter hat sich nichts aus Jungen gemacht«, entgegnete Suzette eilends.
»Von meinem Enkel war sie sehr angetan«, erklärte Madame Lazar. Sie hatte eine Art zu sprechen, die ihre Worte ins Bewusstsein sickern ließ, als wären sie schon immer dort gewesen. »Sie hat häufig bei uns hereingeschaut und ist ihm nachgelaufen wie ein Hündchen. Falls ihr zu Ohren gekommen ist, dass Henry mit ihrer Schwester verlobt war …«
Die Mädchen erstarrten und sahen einander an, um festzustellen, ob eine von diesem großen Geheimnis gewusst hatte. Valerie schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf. Sie hätte es ihren Freundinnen lieber selbst gesagt. Sie wusste, dass sie alle davon träumten, Henry zu bekommen.
Rose ärgerte sich im ersten Moment, tat die Sache dann aber mit einem Schulterzucken ab: Henry konnte sich immer noch anders entscheiden.
Prudence machte ein finsteres Gesicht, wusste aber, dass sie hier nichts dazu sagen konnte.
Roxanne dachte an Lucie – sie wusste, dass Henry nie für sie bestimmt gewesen war. »Das muss ihr das Herz gebrochen haben«, sagte sie schließlich in andächtigem Flüsterton.
»Vielleicht wollte sie lieber sterben, als ohne ihn zu leben«, fügte Rose versonnen hinzu. »Ist hinaus aufs Feld und hat den Wolf gesucht.«
»Nein«, widersprach Suzette energisch. »Das ist undenkbar.«
»Sie hat mit mir nie über ihre Gefühle gesprochen«, überlegte Valerie laut. Sie fühlte sich hintergangen. Wie hatte sie nur so blind sein können? Ihre Schwester hatte Henry geliebt, ohne ihr ein Wort zu sagen. Hat sie von der Verlobung gewusst? Hat sie zufällig gehört, wie die Eltern Pläne geschmiedet haben? Valerie hielt es für möglich, aber nicht für wahrscheinlich, denn sie waren die ganze Zeit zusammen gewesen. Hätte es ihr das Herz gebrochen?
»Keine Sorge, mein armes Kind«, sagte Madame Lazar, die Lucies Tod kaum zu interessieren schien. »Ich weiß, dass du dir wegen deiner Schwester Vorwürfe machst, aber Henry hatte immer nur Augen für dich. Du bist – du warst immer die Hübschere.« Sie hob die Hand und streichelte Valerie mit einer spinnengleichen Bewegung die Wange.
Suzette wünschte, die Besucher würden jetzt gehen, doch als sie Schritte die Leiter heraufkommen hörte, öffnete sie trotzdem die Tür, trat hinaus auf die Veranda und schloss die Tür wieder hinter sich, damit es nicht hineinschneite. Doch als sie den dunklen Haarschopf auftauchen sah, bereute sie es. Auch nach all den Jahren erkannte sie ihn sofort.
»Für Lucie«, sagte Peter ruhig und hielt ihr eine vergoldete Heiligenkerze hin, die mit flackernder Flamme brannte.
»Geh.«
Peter hatte mit einem solchen Empfang gerechnet und war darauf gefasst. Er räusperte sich. »Ich würde ihr gern die letzte Ehre erweisen«, sagte er, immer noch um Höflichkeit bemüht. Die Frau trauerte um ihre Tochter.
»Ich kann mir schon denken, warum du hier bist«, sagte sie, eine Hand an der Tür. »Ich habe gerade eine Tochter verloren. Ich will nicht noch eine verlieren.«
» Warten Sie.«
»Sie ist alles, was mir geblieben ist«, zischte sie. »Und du hast ihr nichts zu bieten.«
Peter wusste, dass sie recht hatte, dass Valerie etwas Besseres verdiente. Aber er konnte sie nicht aufgeben. »Ich habe einen Beruf. Denselben Beruf wie Ihr Mann.«
»Ich weiß genau, was ein Holzfäller verdient.«
Peter wollte protestieren, doch Suzette kam ihm zuvor. »Henry Lazar ist ihre einzige Hoffnung auf ein besseres
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