- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
in verfilzte Strähnen aufgelöst.
Der Kräuterkranz hing noch in ihrem Haar. Valerie nahm ihr Schultertuch ab und breitete es über Lucie. Dann ergriff sie die Hand ihrer Schwester und hob sie an ihre Wange, und dabei spürte sie, dass die kühle Hand ein paar Papierschnitzel hielt, als wollte sie ihr ein letztes Geheimnis anvertrauen. Die Schnitzel sahen aus wie die Überreste eines Briefs, aber die Schrift war unmöglich zu entziffern. Valerie steckte sie in die Tasche.
Die Hand war feucht von Tau und klebrig von geronnenem Blut. Schließlich ergab sie sich dem befreienden Gefühl der Trauer, ließ sich von ihm begraben wie unter einer Schneedecke, sodass ihr alles andere gedämpft und weit weg erschien.
Bald spürte Valerie, wie unbekannte Hände in ihre Zweisamkeit mit der Schwester eindrangen. Sie konnte nicht loslassen, denn sie wusste nicht, ob Lucie ihren Körper schon verlassen hatte. Sie wusste nicht, wie schnell so etwas geschah. Sie musste mit Gewalt weggebracht werden, ihre Knie schmutzig braun von Blut und Wintererde, die Wangen nass von Tränen.
Als man sie fortzerrte, fiel der erste Schnee.
Der Winter kam früh.
Kapitel 9
I nnerhalb einer Stunde war das Haus voller Trauergäste, sodass kaum noch Luft zum Atmen blieb. Valerie fühlte sich vollkommen leer.
Die Familienmitglieder trauerten jedes für sich. Es war, als hätte sich die ganze Welt verändert, obwohl ihre Umgebung unerklärlicherweise noch dieselbe war. Abgesehen davon, dass jemand von ihnen gegangen war, war alles noch so, wie es immer gewesen war. Eine Leine war quer durch den Raum gespannt und hing unter dem Gewicht der Familienwäsche durch. Die Kekse lagen zum Trocknen im Regal. Alles war so, wie sie es verlassen hatten.
Suzette hatte sich an die Tür gestellt und blickte nach draußen, weil sie es drinnen nicht mehr aushielt. Der glitzernde Schnee war wie Glas, das vom Himmel fiel. Valerie fragte sich, ob ihre Mutter enttäuscht war, weil die schönere, die liebenswertere, die gehorsamere Tochter tot war und ihr nur die andere blieb.
Am anderen Ende des Raums warf Cesaire den Kopf zurück und trank einen Schluck aus seiner Flasche. Er litt stoisch und ließ sich nicht einmal von Suzette trösten. Valerie hätte sich gewünscht, er wäre nicht so hart gegen sich
selbst. Offenbar fühlte er sich für den Tod seiner Tochter verantwortlich, weil er sie nicht beschützt hatte.
Trauergäste irrten umher, ziellos und wie unter Schock. Sie waren so gewöhnlich in ihrer Anteilnahme und gaben nur die üblichen leeren Worte von sich, die alle Leute trauernden Hinterbliebenen sagen.
»Sie ist jetzt in einer besseren Welt.«
»Gut, dass ihr noch Valerie habt.«
»Ihr könntet immer noch eine weitere …«
Claude und die Mädchen machten Lucies Leichnam zurecht, wuschen sanft ihr Gesicht, ihre Hände, brachten es aber nicht über sich, ihre schweren Glieder anzuheben. Lucie anzukleiden, ihren Körper zu berühren, ihn mit Blumen zu schmücken, kam ihnen unanständig vor.
Valerie stand neben ihnen, rührte sich aber nicht und sprach kein Wort. Ihre Freundinnen hätten gerne etwas für sie getan, wussten aber nicht, was. Die Strenge und die Heftigkeit ihrer Trauer machten ihnen beinahe Angst und so ließen sie sie in Ruhe.
Die Dorfbewohner hatten das Gefühl, dass sie über Lucie sprechen sollten, nur was sollten sie sagen? Sie dachten an sie und vielleicht genügte das ja. Sie saßen in Ecken, unterhielten sich flüsternd, als hätten sie ein schlechtes Gewissen, außerstande, sich ganz auf das Trauern zu konzentrieren, denn sie dachten besorgt an die kommende Nacht. Heute Nacht würde der Blutmond zum zweiten Mal aufgehen, darin waren sich die Älteren einig. Männer sahen ihre Töchter an und fragten sich, welche wohl die Nächste sein würde.
»W—w—warum hasst uns der Wolf?«, fragte Claude irgendwann, und ausnahmsweise einmal waren die Leute still, wenn er sprach.
Eine einfache Frage. Und doch wusste niemand eine Antwort.
Roxanne hüstelte und der verhaltene Laut erfüllte den Raum.
Ein Klopfen an der Tür löste die Spannung.
»Das sind die Lazars!«, hörte Valerie wie von fern ihre Mutter sagen.
Die anderen Mädchen schauten auf, als die drei Generationen der Familie eintraten — Madame Lazar, ihr Sohn Adrien, der Witwer, und dessen Sohn Henry. Rose schenkte dem Jüngsten ein dünnes Lächeln, aber Henrys Augen suchten nur Valerie. Als sie nicht einmal in seine Richtung blickte, als sie vor ihm zurückschreckte,
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